452
I l l u st r i r t e Deutsche Monatshefte.
ein geistig bedeutender und hoch veranlagter Mensch, wurde aber durch niedere Stellung und widrige Lebensschicksale an der vollen Entfaltung seiner geistigen Kräfte gehindert.
Im Allgemeinen wird man — auch ohne sich nach weiteren Beispielen dieser Art umzusehen — das Richtige treffen, wenn man annimmt, daß die Kinder in der Regel ein Gemisch aus den geistigen und Charaktereigenschaften der beiden Eltern darstellen und daß die Söhne im großen Ganzen, wie man zu sagen pflegt und wie dieses ja auch die tägliche Erfahrung lehrt, mehr auf die Väter, die Töchter mehr auf die Mütter herans- kommen. Doch hängt dieses von einer solchen Menge zufälliger Nebenumstände ab, daß sich allgemeine Regeln hierüber kaum aufstellen lassen. Daraus erklärt sich auch ohne Schwierigkeit, warum dieselben Eltern einer Reihe von Kindern das Leben geben können, welche unter einander nach körperlicher wie geistiger Anlage mitunter so große Verschiedenheiten zeigen, obgleich ein sie gemeinsam verbindendes Band der allgemeinen Familienähnlichkeit selten zu verkennen ist. Je mehr übrigens unter zwei Eltern der eine Theil durch Kraft, Gesundheit und Lebensenergie, ausgeprägte Charakter- oder Geisteseigenthümlichkeiten den anderen überragt und beherrscht, um so mehr ist anzuuehmen, daß, cmstsi-W paribu8, die Kinder in ihrer körperlichen und geistigen Organisation diesem Theile folgen werden. Die hiermit zusammenhängende Frage, warum gewisse Eigen- thümlichkeiten oder Anlagen der Eltern auf einzelne Kinder übergehen, auf andere nicht, ist nicht schwerer zu beantworten als die Frage, warum gewisse Krankheitsanlagen der Eltern in einzelnen Kindern wiederkehren, in anderen nicht. Aus gleichen Zufälligkeiten oder aus dem verwischenden Einfluß der Kreuzung beantwortet sich die oft aufgeworfene Frage, warum geistig bedeutende Eltern nicht immer geistig bedeutende Kinder haben. Umgekehrt kann das plötzliche Auftreten von Genies in vorher unbekannten Familien zum Theil wenigstens aus Atavismus erklärt werden.
Jedenfalls erstreckt sich die Macht der intellectuellen oder geistigen Vererbung nicht bloß auf sogenannte große oder her
vorragende Geister, sondern gleicherweise aus alle Menschen und hat zur noth- wendigen Folge, daß bei civilisirten oder im Fortschritt begriffenen Völkern eine stete, langsame Steigerung des geistigen Vermögens oder der geistigen Kräfte stattsinden muß, indem jede einzelne Generation von der ihr vorangegangenen eine durch Uebung, Erfahrung, Erziehung und zufällige Erwerbung etwas gesteigerte geistige Anlage überkommt und dabei gewissermaßen Zins ans Capital, Zins auf Zins geschlagen wird, so daß die Erziehung selbst eben infolge der gesteigerten Anlage auf der einen Seite ein immer leichteres Spiel bekommt, auf der anderen Seite freilich bei gesteigerten Ansprüchen auch mehr zu leisten hat als früher. Die Ursache für diese Steigerung des geistigen Vermögens kann auch hier wieder allein in dem Organ des Geistes oder in dem Gehirn gesucht werden, von welchem wir wissen, daß es durch anhaltenden Gebrauch und Uebung ebenso wächst, erstarkt und leistungsfähiger wird wie jedes andere Organ unseres Körpers, und daß es die Kraft hat, die auf solche Weise erlangte größere Anlage oder Leistungsfähigkeit weiterznerben. Es konnte eine Menge von Beweisen für diesen Satz angeführt werden; wir wollen uns aber hier mit einem kurzen Hinweis begnügen auf die bekannten Resultate der interessanten Untersuchungen von Professor Broca in Paris, welcher sich die Mühe genommen hat, nicht weniger als drei- hundertviernndachtzig Schädel ans Gräbern der alten Pariser Kirchhöfe auf ihren Rauminhalt zu untersuchen und denselben mit dem durchschnittlichen Rauminhalt der heutigen Pariser Schädel zu vergleichen. Er fand dabei, daß der mittlere Rauminhalt der Pariser Schädel im Laufe von ungefähr sechs bis sieben Jahrhunderten um nicht weniger als 35 6om zugenommen hat, und ferner, daß die aus Privatgräbern des neunzehnten Jahrhunderts entnommenen Schädel (welche also Personen höherer Stände angehört haben) durchschnittlich einen um mehr als 80 «em größeren Rauminhalt besitzen als die Schädel ans den gemeinschaftlichen Gruben, in denen nur Angehörige niederer Stände beerdigt werden. Dasselbe Resultat ergiebt auch