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Büchner: Die Macht der Vererbung.
eine generelle Vergleichung des Schädel- raumes bei den gebildeten und ungebildeten Classen der Gesellschaft selbst, sowie des durchschnittlichen Schädelraumes wilder und eivilisirter Völker, so daß daraus mit Bestimmtheit gefolgert werden kann, daß die Größe des Gehirns unter dem Einfluß der Cultur generationen-, oder classen-, oder völkerweise zunimmt. Aber diese Gehirnverbesserung bezieht sich nicht bloß auf die Größe oder Masse des Organs, welche, wie allgemein hier bemerkt werden mag, im Großen und Ganzen nur einen sehr unvollkommenen oder unzuverlässigen Maßstab für geistiges Vermögen abgicbt, sondern ebenso und wahrscheinlich noch weit mehr auf dessen innere Organisation, namentlich aus die Bildung und Entwickelung der den eigentlichen Geistesthätigkeiten vorstehenden sogenannten grauen Substanz, sowie auf die Steigerung der Anlage oder Kraft des Organs zur Aufnahme neuer Erfahrungen oder der Functionsfähigkeit überhaupt. Der berühmte englische Philosoph Herbert Spencer, welcher ja zuerst den kühnen und fruchtbaren Gedanken anssprach, daß unser gesummtes geistiges Vermögen nur aus einer allmäligen Steigerung und Summirnng zahlloser psychischer, durch Wirkung und Gegenwirkung hervorgebrachter Processe, von der untersten Stufe der Empfindungsfähigkeit anfangend, hervorgegangen und sich bis zur jetzigen Höhe entwickelt haben mag, nennt das menschliche Gehirn ein organisirtes Register von unendlich zahlreichen Erfahrungen, die während der Entwickelung des Lebens oder vielmehr während der Entwickelung jener Reihe von Organismen ausgenommen wurden, durch welche der menschliche Organismus nach und nach erreicht worden ist. Die Wirkungen der gleichmäßigsten und häufigsten dieser Erscheinungen sind nach ihm allmälig vererbt worden und sind, Capital und Zinsen, langsam bis zu der hohen Intelligenz gestiegen, welche jetzo in dem Gehirn des menschlichen Kindes „latent" ist, d. h. im verborgenen oder unentwickelten Zustande der Eindrücke harrt, welche dasselbe zu seiner vollen Ausbildung zu bringen bestimmt sind. Es ist derselbe großartige Gedanke stufen- weiser Erwerbung und Vererbung, wel
cher die ganze Descendenzlehre beherrscht und welcher hier aus das geistige Leben angewendet wird. Wie die Lehre der Entwickelung, von der Urzellc anfangend, das gesammte Wesen des Menschen von der Wechselwirkung des Organismus und seiner Umgebung während unermeßlicher Zeiträume ableitet, so läßt diese geistvolle Theorie auch den menschlichen Verstand selber als ein Resultat der Wechselwirkuug des Organismus und seiner Umgebung während kosmischer Zeitstufen erscheinen. „So kommt es," wie Tyndall in seiner ausgezeichneten Rede über Religion und Wissenschaft (1874) in Uebereinstimmung mit Spencer das Facit dieser Theorie zieht, „daß der Europäer zwischen dreißig und vierzig Cubikzoll Gehirn mehr erbt als der Papua; daher kommt es, daß Fähigkeiten, wie die der Musik, die bei manchen niederen Racen kaum existirt, bei den höheren mit der Geburt vererbt werden — kurz, daß aus Wilden, die nicht im Stande sind, bis zur Zahl ihrer Finger zu zählen, und die nur eine Haupt- und Zeitwörter enthaltende Sprache reden, schließlich unsere Newtons und Shakespeares entstehen."
Auch jene angebvrenen Ideen oder Deuk- formen, von denen unsere Philosophen behaupten, daß sie unserem Geiste apriorisch, d. h. vor aller Erfahrung und unabhängig von derselben eingepflanzt seien, wie z. B. die Formen von Zeit, Raum und Causalität — müssen als Resultat der geistigen Vererbung und jener unaufhörlichen Wechselwirkung angesehen werden, welche der menschliche Verstand seit undenklicher Zeit mit der Außenwelt unterhalten hat. Durch die Millionen- und milliardenfache Wiederholung derselben Eindrücke, welche von jedem lebenden Wesen in jedem Augenblicke seines wachen Lebens empfunden werden und welche durch absolut beständige und allgemeine Beziehungen zwischen Snbject und Object hervorgernfen sind, muß nothwendig nach und nach eine Art geistiger Gewöhnung oder Disposition des Gehirns, in bestimmter Art thätig zu sein, erzeugt werden — eine Disposition oder Thätigkeit, welche zuletzt so automatisch wird, daß sie den Anschein einer von aller Erfahrung unabhängigen Angeboren- heit erweckt. Oder — mit anderen Wor-