Heft 
(1881) 298
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Büchner: Die Ma

einem Gesetz, welches Leben, Bewegung, Abwechselung und Fortschritt zur noth- wendigen Folge hat also gerade das­jenige, was wir in Wirklichkeit innerhalb des Cultursortschritts vor uns sehen. Wehe jedem Volke, welches diesen natür­lichen Entwickelungs- und Fortschrittspro- ceß gewaltsam unterbricht! Mail denke an das unglückliche Spanien, welches seine geistige und politische Entartung größtentheils dein Umstande verdankt, daß durch die langdauernden Verfolgun­gen der Inquisition gerade die besten Geister und Denker fortwährend gewalt­sam eliminirt wurden und daß damit die natürliche Entwickelung und Weiterbildung geistigen Lebens durch Erwerbung und Vererbung unmöglich gemacht wurde. Aber man wahre sich auch Denjenigen gegenüber, welche nicht Ansehen oder nicht Ansehen wollen, daß und welche schöpferische Kraft in diesem natürlichen, von der Ver­erbung erworbener Fähigkeiten gestützten Entwickelnngsproceß liegt, und welche zwar nicht durch Gewaltmaßregeln, aber doch durch ihr wissenschaftliches Ansehen dem­selben und damit dem ewigen geistigen Fortschritt der Menschheit einen Damm entgegensetzen wollen! Niemand und sei er in der Wissenschaft noch so hoch gestiegen kann zum Voraus sagen, was wir in der Zukunft wissen können und was wir nicht wissen oder können werden. Wenn im Anfänge dieses Jahr­hunderts irgend Jemand erklärt hätte, wir würden gegen das Ende oder in der zweiten Hälfte desselben die ganze Erde mit Eisenbahnen und Dampfschiffen befahren; oder wir würden mit Hülfe des Telegraphen in wenigen Augenblicken einen Welttheil mit dem anderen sprechen lassen; oder wir würden mit Hülfe der Spectralanalyse erfahren, welche Stoffe in der Sonne oder in den entfern­testen Fixsternen und Urnebeln verbren­nen; oder wir würden Aufklärung da­rüber gewinnen, wie und auf welche Weise die Organismenwelt der Erde und schließlich der weltbeherrschende Mensch selbst mit allen seinen enormen Kräften und Fähigkeiten nach und nach in sehr- langen Zeiträumen entstanden sei; oder wir würden in den Stand gesetzt werden, die Geschwindigkeit des Gedankens zu messen oder mit Hülfe des Phonographen

cht der Vererbung.

längst gesprochene Worte von Neuem er­tönen zu lassen; oder wir würden mit Hülfe des Sonnenlichtes getreue Abbilder von Personen und Gegenständen in we­nigen Augenblicken Herstellen; oder wir würden auf große Entfernungen durch eine Schnur mit einander reden oder mit Hülfe zusammengepreßter Luft die höchsten Gebirgsketten durchbohren, so würde man ihn wohl für einen Narren erklärt und bei Fortdauer seiner Narrheit in ein Irren­haus gesteckt haben. Ebenso wenig aber, wie dieses damals möglich oder denkbar war, ebenso wenig kann heutzutage Jemand dem menschlichen Wissen und Können be­stimmte Grenzen anweisen und sich unter­fangen, zu sagen: Bis hierher und nicht weiter! Im Gegentheil kann kein Mensch, auf theoretische Gründe gestützt, voraus wissen, welche Stufe wir noch an der Hand des Gesetzes der Erwerbung und Vererbung auf der Leiter des geistigen, moralischen und materiellen Fortschritts zu erreichen bestimmt sind. Jedenfalls ist so viel gewiß, daß durch jenes Gesetz eine geradezu end­lose oder doch in keiner Weise zum Vor­aus berechenbare Gelegenheit zum geisti­gen und materiellen Fortschritt gegeben ist. Also lasse sich der moderne Cultur- mensch durch solche Rufe voreiliger Grenz­wächter der Wissenschaft nicht entmuthigen, sondern strebe muthig und unbeirrt der Sonne der Wahrheit, dem Siege des Lichtes entgegen. Kein Ziel sei ihm zu hoch, kein Licht zu blendend, keine An­strengung zu groß. Ein einziger Blick auf das gänzlich veränderte Wesen, das aus ihm selbst oder seinem Geschlecht im Lauf der Jahrtausende geworden ist, muß genügen, um ihn bei keiner Anstrengung verzweifeln zu lassen, und ihn veranlassen, statt deslAliorÄbimu8^ das8ASMU8" auf seine Fahne zu schreiben.

Allerdings ist der Fortschritt als solcher und im Lichte der Geschichte nicht so leicht zu begreifen, wie dieses dem bloßen Wort­laute nach scheinen mag. Fortschritte wechseln in der Geschichte bekanntlich mit so großen Rückschritten, daß viele Gelehrte sich nicht gescheut haben, die Existenz des Fortschritts überhaupt zu leugnen. Diese Leugnung beruht auf demselben Mißver- ständniß, welchem die Descendenztheorie oder die Entwickelnngslehre der Organis­men so oft anheimgefallen ist dem