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Storni: Der Herr Etatsrath.
Abends, wo die gerötheten Augen ihm nicht selten ihren Dienst versagten, zum Vorlesen von Zeitungen und auch wohl amtlicher Actenstücke trefflich zu gebrauchen sei; dann hatte er sich auch fernerer Vaterpflichten entsonnen und schließlich seine Tochter aufgefordert, „die kleinen Fräulein", welche mit ihr in die Schule gingen, auf den Sonntag zu sich einzuladen.
Nach geheimem Zwiesprach zwischen unseren Eltern wurde, wohl nicht ganz unbedenklich, meiner Schwester die Zusage gestattet, und Phia Sternow ging mit leuchtenden Augen weiter, um auch ihre übrigen Gäste einzuladen.
Der Tag verging. Als wir Uebrigen im elterlichen Hause bei unserer Abendmahlzeit saßen und eben hin und her erwogen wurde, ob ich oder unser Kutscher meine Schwester von der etatsräthlichen Gesellschaft heimgeleiten solle, ging draußen die Hausthür, und die Besprochene stand Plötzlich vor uns, den Hut etwas verschoben auf dem Kopfe, ihren Umhang über dem Arm.
„Da bist du?" rief meine Mutter. „Ist die Gesellschaft denn schon aus?"
„Nein, Mutter ... noch nicht; ich bin nur fortgelaufen."
„Fortgelausen? — War's denn nicht gut sein dort?"
„O, ... ja, zuerst! Phia war reizend! Wir waren Alle im Garten; die Anderen spielten Greif um die großen Rasen; Phia und ich aber saßen ganz allein mit einander auf dem Altan; wißt ihr, da in der Ecke, wo man nach dem Kirchhof hinübersieht. Sie kannte all' die kleinen Kindergräber und erzählte so wunderbare Geschichten von den todten Kindern; mau sah sie ordentlich mit ihren kleinen blassen Gesichtern zwischen den Kirchhossblumen
lausen; ihr könnt es euch nicht denken, so reizend und so unbeschreiblich traurig! Ich sah sie an und srug, ob sie das Alles doch nicht nur geträumt habe; da fiel sie mir um den Hals und küßte mich."
Meine Mutter hörte theilnehmend zu; mein Vater sagte: „Das ist recht schön, Margrethe; aber vor den todten Kindern bist du doch nicht fortgelaufen!?"
Meine Schwester nickte ein paar Mal kräftig. „Wart' nur, Papa! — Um acht Uhr, nach dem Abendessen — es war übrigens sehr gut; zuletzt Chocolade- pudding mit Vanillecreme —, da kam der Herr Etatsrath zu uns in den Gartensaal. Es ist ganz gewiß, er mußte sich an eine Stuhllehne halten, als er uns seinen Diener machte; er ist so wunderlich gewachsen! Dann setzte er sich vor seinen Altar uüd spielte auf seiner Glasharmonika, und wir sollten danach tanzen. /Verstehet ihr Menuett, kleine Fräulein? Trä-lä-lalä-lalä-lalä / Er sang das mit einer ganz fürchterlichen Stimme und sagte, es sei aus dem Don Juan. Aber wir konnten kein Menuett. , Immer zu Diensten der Damen!" rief er, und dann spielte er einen Walzer, und danach tanzten wir mit einander."
„Wo war denn der gute Archimedes?" srug ich dazwischen. „An dem hättet ihr doch wenigstens einen Herrn gehabt."
„Der gute Archimedes? Ja, der kam auch einmal herein und wollte mit mir tanzen; aber der Herr Etatsrath sagte, unsere Eltern würden es als sehr unschicklich vermerken, wenn er gestatten wollte, daß eine so junge männliche Person allein zwischen all' den kleinen Fräulein tanze. Und so mußte er wieder zum Saal hinaus. Aber paßt nur auf, das Schlimmste kommt nun noch!"
Mein Vater lächelte doch. „Was war denn das, Margrethe?"
„Ja, glaub' nur, es war schlimm genug ! So eine riesengroße silberne Bowle,