Lindau: Reise
cutirt, mit demselben Interesse erwogen wie in einer beliebigen europäischen oder amerikanischen Stadt; alle Fluctuationen der Märkte von London, New-Aork, Lyon u. s. w. werden in den chinesischen und japanischen Häfen unmittelbar nachempfunden und machen das geschäftliche Treiben daselbst zu einem lebhaften und aufregenden. Die fremden Kanfleute, die sich in Ostasien niedergelassen haben, entbehren viele der Vergnügungen und Zerstreuungen, deren sich ihre Genossen in der Hei- math erfreuen können; aber über Langeweile haben sie, im Allgemeinen wenigstens, nicht zu klagen. Das Leben in den Handelsstationen des „fernen Ostens" ist kein leichtes und noch weniger ist es ein leeres. — Ganz anders aber verhält es sich mit den Bewohnern der ostasiatischen russischen Ansiedelungen. Diese vegetiren in trauriger Verbannung, in tiefer Ruhe und Einsamkeit, und nur in langen und unregelmäßigen Zwischenräumen dringt ein schwacher Widerhall des geräuschvollen Lebens der Welt an ihr Ohr.
Die russische Ansiedelung von Wladi- wostock bestand im Jahre 1861 aus neun hölzernen Häusern, in denen zwei Offiziere und siebzig Soldaten untergebracht waren. Das Haus des Gouverneurs war an der russischen Flagge, die über demselben wehte, erkennbar. Walsh und ich beschlossen, dort einen Besuch zu machen. Als wir ans Land gestiegen waren, kam uns ein noch junger Seeoffizier entgegen, der uns mit großer Liebenswürdigkeit begrüßte, sich als den Oberstcommandirenden der kleinen Cvlonie zu erkennen gab und uns bat, in sein Haus treten zu wollen. — Am Eingänge desselben wurden wir von einem dickfäustigen, gutmüthig ans- sehenden Soldaten empfangen, der militärisch grüßte und sich sodann beeilte, die Thür des Wohnzimmers vor uns zu öffnen. — Es war ein großes, weißgetünchtes, stark geheiztes Gemach, in das wohl seit Beginn des kalten Wetters kein frischer Luftzug mehr gedrungen war. Es roch dort stark nach fetter Küche und nach türkischem Tabak. Die sestverschlossenen Fenster waren mit Papier verklebt. Aus den Fensterbrettern lagen Tabaksbeutel, Reitpeitschen, lose Cigarren und Papyros, einige abgegriffene Bücher und verschiedene, keineswegs elegante Toilettengegenstände.
-Erinnerungen. 589
In der Mitte des Zimmers stand ein großer runder Tisch, der mit leeren Tassen und Gläsern, Cigarrenkisten und zerknitterten Zeitungen bedeckt war. Auch ein aufgeschlagenes Buch sah ich dort: einen französischen Roman. In der einen Ecke des Zimmers befand sich ein kleiner, ordentlich anssehender, allem Anschein nach wenig benutzter Schreibtisch, unter dem ein großes Bärenfell lag, und auf diesem Tisch bemerkte ich einen Gegenstand, der mit seiner unschönen Umgebung gar nicht in Einklang stand. Es war ein höchst elegantes, längliches, verschlossenes Kästchen aus gepreßtem Leder, dessen Deckel durch eine klare Krystallscheibe gebildet wurde. Das Innere des zierlichen Möbels war mit rother Seide gefüttert und enthielt einen langen, schmalen Handschuh mit vielen Knöpfen, der nur einer kleinen Damenhand als Bedeckung gedient haben konnte.
— Neben dem Arbeitstische stand ein sehr abgenutztes Sopha. An den Wänden hingen die weitverbreiteten Lithographien der Mitglieder der kaiserlichen Familie, über dem Sopha einige Photographien von Verwandten und Freunden des Wir- thes, an dem Fenster ein Barometer und ein Thermometer. — Es war eine warme, schmucklose, unordentliche Junggesellenwohnung. Man sah ihr an, daß dort nie eine weibliche Hand gewaltet hatte, daß kein weibliches Wesen dort erwartet wurde.
— Der Handschuhkasten? — Der war jedenfalls fern aus dem Westen nach Wladiwostock gekommen.
Unser Wirth machte die Honneurs seiner traurigen Wohnung mit möglichster Liebenswürdigkeit; aber man merkte, es wurde ihm schwer, sich mit uns zu unterhalten. Er wußte so gut wie nichts von dem, was seit Jahr und Tag in der Welt vorgegangen war; und es kam mir vor, als schämte er sich seiner unverschuldeten Unwissenheit und wagte deshalb nicht, nach vielen Dingen zu fragen, die ihn wahrscheinlich lebhaft iuteressirten. Er machte auf mich den Eindruck eines niedergeschlagenen, resignirten Mannes. Er wurde etwas redseliger, als wir ihn über Wladiwostock ausfragten. Er erzählte uns von den „Mansa", Flüchtlingen aus den angrenzenden chinesischen Militär- und Strafkolonien, die ohne Hab und Gut, ohne Weib und Kind nach der russischen Man-