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Lindau: Reise-Erinnerungen.
Zwischen Olgabay und Hakodate wurden wir von einem heftigen Sturm überfallen. Der „Saint Louis" erlitt erhebliche Beschädigungen, und als wir den Hafen von Hakodate endlich erreicht hatten, erklärte der Capitän, daß er mehrere Wochen gebrauchen würde, um das Schiff wieder in Stand zu setzen. — Walsh und ich verließen darauf den „Saint Louis" und suchten am Lande Unterkommen, das wir auch, bei den gastfreundlichen Sitten der dort ansässigen Fremden, leicht fanden. Walsh stieg bei einem seiner Landsleute, dem Capitän Fletcher, ich selbst bei einem mir bekannten französischen Missionär, dem Abba Mermet de Cachon, ab. Wir verweilten in Hakodate nahe an sechs Wochen, die ich dazu benutzte, um meine Gesundheit, die sich während der Seereise bereits erheblich gebessert hatte, ganz wieder herzustellen und um Ausflüge an der Küste und in das Innere von Jeffo zu machen. Ich lernte bei dieser Gelegenheit einige japanische Ortschaften und den merkwürdigen Menschenschlag der Aino kennen. Auch traf ich in Hakodate wieder mit einem Engländer zusammen, der mir von meinem ersten Besuche in Aokohama her bekannt war und den ich als die sonderbarste Persönlichkeit unter den in Japan ansässigen Fremden bezeichnen möchte. Seine Arbeiten sind Tausenden von Amerikanern und Europäern zu Gesicht gekommen; er selbst dürfte aber nur wenigen Menschen außerhalb Japans bekannt sein.
Charles Wirgman kam im Jahre 1860 zum ersten Mal nach China, und zwar im Aufträge einer großen englischen Zeitung, der „Jllustrated London News". Er veröffentlichte damals in dem genannten Blatte eine Reihe vorzüglicher Zeichnungen aus China, welche ihn in kurzer Zeit zu einem bekannten und beliebten Correspondenten machten. Aber China erregte Herrn Wirgman's Mißfallen. Er erklärte, das Land wäre zu flach, das Meer zu gelb, die Luft zu schwer. Die Chinesen schienen ihm häßlich und unliebenswürdig; das in den Straßen zur Schau getragene furchtbare Elend der chinesischen Bettler und Krüppel, sowie auch der wackelnde Gang der
sich nach Japan, das ihm, im Gegensatz zu China, über alle Maßen gefiel, und wo ich ihn bald nach seiner Ankunft kennen lernte. Wirgman mochte damals fünfundzwanzig Jahre alt sein; er war ein mittelgroßer, wohlgebauter Mann mit dichtem, braunem Haar, offener Stirn, klugen, Hellen Augen, lachendem Munde und großer Nase und erschien mir, nach seinem ganzen Wesen zu urtheilen, wie ein vollendeter Typus liebenswürdiger, leichtlebiger Sorglosigkeit. Ich habe in dieser Beziehung unter vernünftigen und gebildeten Menschen überhaupt seines Gleichen nicht wiedergesnnden. Wirgman überraschte mich auch durch seine Sprachkenntnisfe; denn Engländer von Geburt und Erziehung, sprach er Deutsch wie ein Deutscher und Französisch, als stammte er aus Paris. Italienisch, Holländisch und Japanisch waren ihm ebenfalls vollständig geläufig, und zur Noth konnte er sich auch noch auf Spanisch, Portugiesisch, ja sogar auf Chinesisch verständlich machen. Auffallend war seine unglaubliche Anspruchslosigkeit; er schien die meisten der Bedürfnisse eines civilisirten Menschen gar nicht zu kennen und stets vollständig mit dem zufrieden zu sein, was sich ihm gerade darbot. Sein Anzug war im Winter wie im Sommer derselbe. Wurde es empfindlich kalt, so zog er einen seidenen, dickwattir- ten japanischen Talar an, denselben, der ihm in der Nacht als Decke diente; im Sommer konnte man ihn in seiner Wohnung — in der nach japanischer Manier keine Möbel standen — halb nackt vor seiner Staffelei arbeiten und auf der Straße ohne Halsbinde und ohne Weste spazieren gehen sehen. Für Vorurtheile jeglicher Art hatte Wirgman so wenig Gefühl und Verftändniß, daß er deswegen bei einigen seiner „stricten" Landsleute im Rufe eines cynischen Menschen stand. — Die Japaner, auf welche die meisten Fremden wie auf geistig Untergeordnete herabblickten, behandelte Wirgman wie Ebenbürtige und konnte sich mit ihnen köstlich amüsiren. Er hatte in kurzer Zeit die beliebtesten japanischen Volkslieder gelernt; auch wußte er auf dem Samsin, der dreisaitigen japanischen Guitarre, zu spielen, und es machte ihm anscheinend
Chinesinnen beleidigte sein Schönheitsgefühl. Er verließ Shanghai und begab
das größte Vergnügen, des Abends in