Heft 
(1881) 299
Seite
616
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616 Jtlustrirte Deutsche Monatshefte.

Constitutionskrankheiten lassen sich, wie bemerkt, unterscheiden. Es wird die Auf­gabe einer ganzen Reihe von Abhand­lungen bilden, näher auf dieselben einzn- gehen und die großen Heilmittel, welche gegen sie ins Feld geführt werden, zu be­sprechen. Beginnen wir zunächst mit jenen constitutionellen Schwächezuständen, deren Basis bereits oben bezeichnet wurde, und beschäftigen wir uns für heute nur mit einem der gegen dieselben empfohle­nen Heilmittel, aber auch einem der mächtigsten: der Nordseeluft und dem Nordsee bade.

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Was ist constitutionelle Schwäche? Es ist zunächst und im Allgemeinen ein Mangel an der dem Gesunden innewoh­nenden Fähigkeit, den Einflüssen der uns umgebenden äußeren Verhältnisse, sowie den unvermeidlichen verschiedenartigen Be­wegungen des geistigen Lebens Wider­stand zu leisten und diejenige Arbeit zu verrichten, welche als Normalleistung oder Durchschnittsleistung des gesunden Men­schen bezeichnet werden darf. - Der con- stitutionell Schwache wird durch einen Lufttemperaturwechsel, welcher den Ge­sunden unberührt läßt, schon krank; er erkältet sich leicht". Er friert schon bei 13 bis 14 0 R. Zimmertemperatur und liegt bei einer Sonnentemperatur von 24 bis 250 R. ermattet danieder. Ein leichter Aerger raubt ihm aus einen Tag den Appetit oder den Schlaf, und ein ernster Kummer macht ihn auf Tage arbeitsunfähig. Eine mäßige körperliche Anstrengung führt rasch zu einer Er­mattung, welche eine längere Ausruhe erfordert; eine geistige Anstrengung über­reizt das Gehirn bis zur Schlaflosigkeit oder ist überhaupt nur für kurze Stunden bei langsamem Gedankengange möglich. Die Frische des Lebens fehlt; Entschlüsse schwanken; dieFliege an der Wand" wird znm Aergerniß.

So etwa gestaltet sich das Bild beim Erwachsenen. Aber schon dem Kinde wird diese Schwäche oft als Erbtheil von den Eltern übertragen, und in Krankheitser­scheinungen verschiedenster Art spricht sich hier dieselbe bald aus. Das Kind nimmt in der Regel nur langsam an

Körpergewicht zu, das Colorit bleibt bläßlich; runden sich die Körpersormen, so ist die Muskulatur doch meistens schwach entwickelt, die Gewebe sind schlaff. Aufschrecken im Schlaf, große Reizbarkeit und Weinerlichkeit, viel Schlafbedürfnis; sind häufige Erscheinungen. Die Zähne entwickeln sich langsam, oder spät, oder unregelmäßig und zeigen oft einen Man­gel an Schmelz. Die ersten selbständigen Gehversuche werden meistens später als von anderen Kindern gemacht. Die geistige Entwickelung kann dabei mitunter eine sehr gute, frühzeitige sein, macht aber auch ebenso oft nur sehr langsame Fort­schritte. Unter diesen allgemeinen Er­scheinungen treten dann sehr oft frühzeitig Hautausschläge ein, und mit diesen oder auch ohne sie entwickelt sich allmälig eine oder die andere Form der serophulösen Krankheitsbilder. Augen- und Ohrent­zündungen, Anschwellungen der Hals- oder Unterleibsdrüsen, in späteren Jahren Er­weichungen und Geschwürsbildungen an den Halsdrüsen, Knochenerkranknngen an den Wirbeln oder Gelenkendeu sind die häufigsten derselben. Werden diese Kin­der von Masern befallen, so bleiben die Lungen oft längere Zeit leidend, falls nicht sogar durch entzündliche Krankheiten in denselben rascher Tod herbeigeführt wird. Aber die Reihe der Leiden ist damit nicht abgeschlossen. Ein unregel­mäßiges, zeitweise sehr rasches Längen­wachsthum ist in der Regel von hoch­gradigen Schwächezuständen, Blässe und Kraftlosigkeit begleitet. Im zehnten bis vierzehnten Lebensjahre treten dann häu­fig die acuten Gelenkrheumatismen und in ihrem Gefolge die gefahrvollen Herz­erkrankungen auf. Am meisten drohend erscheint aber in den noch späteren Jahren (fünfzehn bis einundzwanzig) neben einer überhaupt verzögerten Körperentwickelung der so häufige Beginn der lungenschwind­süchtigen Erkrankung. Das sind die Kinder, deren Gesundheitszustand kaum für Monate ohne Sorge läßt, die tägliche Quelle der Beunruhigung für Eltern und Angehörige.

Durch ungünstige äußere Lebensverhält­nisse, ärmliche Nahrung, ungesunde Woh­nung, mangelnde Sauberkeit, durch Ueber- reizungen andererseits infolge von zu viel geistiger Arbeit, übertriebenem Neben einer