Heft 
(1881) 299
Seite
617
Einzelbild herunterladen

617

Beneke: Nordseeluft

Kunst u. s. w. können diese Krankheits­erscheinungen beträchtlich gefördert und in ihreni Auftreten beschleunigt werden. Aber auch Kinder, welche unter den denk­bar besten hygienischen Verhältnissen leben, bieten dasselbe Bild und dieselben Früchte der constitntionellen Schwäche dar, und dies eben lehrt uns, daß wir nicht mit Flecken an Blatt und Blüthe, sondern mit einem Schaden an Wurzel und Stamm, mit einer wirklichen constitntionellen Er­krankung zu thun haben. Krankheiten und Schwächeznstände der Eltern selbst, der unselige und immer mehr zunehmende übermäßige Bier-und Alkoholgenuß, Leicht­fertigkeiten der hoffenden jungen Frauen n. s. w. bergen die letzten Quellen dieser constitntionellen Schwächeznstände in sich, und wollen wir nach dem Grunde der Schwächeznstände der Eltern selbst fragen, so bedarf es nur eines Blickes in das sociale, politische und mereantile Treiben unserer Zeit, um den Schlüssel der Ant­wort zu finden.

Ist es noch erforderlich, die ungeheure Häufigkeit dieser Schwächeznstände unserer Jugend und des nachjngendlichen Alters mit Zahlen zu belegen? Unter hundert Todesfällen überhaupt sind in Deutsch­land im Mittel fünfzehn bis achtzehn allein durch Lungenschwindsüchten bedingt; von 10000 Lebenden erliegen derselben all­jährlich durchschnittlich achtunddreißig bis fünfundvierzig Menschen! Die Opfer, welche der constitntionellen Schwäche in früheren Jahren, und zwar infolge von Gehirnentzündung, Kuochenleiden, Er­krankungen der Unterleibsdrüsen, Gelenk­rheumatismus und Herzerkrankungen rc., erliegen, beziffern sich auf mindestens die Hälfte der angegebenen Zahlen. Welch ein Verlust an Leben, an Arbeitskraft, an todtem Capital! Und welch eine Quelle steter Sorge, kummervoller Er­fahrungen und schwächender Momente für Eltern und nächste Angehörige! Vielleicht die größten Verluste sind es, die durch die Schwächung der Arbeitskraft des in voller Lebensfrische wirkenden Mannes oder die Abnahme der Lebensfreudigkeit eines Elternpaares herbeigeführt werden, und beide werden bedingt durch die Wun­den, die der Tod der Kinder dem Eltern­herzen schlägt. Das ist eine Folge des Hinsiechens manchen jugendlichen Lebens,

und Nordseehospize.

die selten hinreichend erwogen wird und in ihrem Verlustwerthe gar nicht abzu­schätzen ist! Nur wer sie an sich selbst erfahren hat, kennt ihre Bedeutung.

Aber giebt es denn kein Land, keinen Ort, keine anderweitigen Mittel, um diesen constitntionellen Schwächeznständen abzu­helfen und deren Umsichgreifen einen Damm entgegenzusetzen?

Es kann und soll nicht Aufgabe dieser Blätter sein, diese Frage ausführlich zu beantworten. Aber das Beste des Besten wollen wir kennen lernen.

Tretet mit mir hinaus an das Meer, auf die öden Inseln unserer Nordsee, und ein erfreuliches Bild entrollt sich den ärztlich prüfenden Blicken!

Kernige, derbe Männer- und Frauen­gestalten kommen uns entgegen. Vergeb­lich sucht man unter ihnen nach Erscheinun­gen, welche das Gepräge constitutioneller Schwäche oder schwindsüchtiger Leiden tra­gen. Von den wenigen verfallenen Ge­stalten, die uns begegnen, erfahren wir bald, daß sie vorzugsweise durch Trunk­sucht ihre Gesundheit geschädigt haben. Die relativ große Zahl noch rüstiger Greise sagt uns, daß viele Leute hier ein hohes Alter erreichen. Die Jugend tum­melt sich am Strande. Unter den frischen Gesichtern findet sich kaum ein einziges, welches die charakteristischen Merkmale scrophulösen Leidens oder jene krankhafte Blässe zeigte, welche uns auf dem Con- tinent so oft begegnet. Und diese Ge­stalten entwickeln sich trotz einer im All­gemeinen wenig gesunden Ernährungsweise, trotz aller Unbilden der Witterung und aller übrigen Schädlichkeiten, welchen sie beim Fischfang und Wattengang (zum Ködergraben) ansgesetzt sind!

Die Sterblichkeitslisten der Insel Nor­derney mit ihren 2200 Einwohnern be­stätigen in zuverlässiger Weise unseren ersten Eindruck. Selbst wenn man die Rechnung im wenigst günstigen Sinne vornimmt und zweifelhafte Fälle als positive einstellt, es ergiebt sich, daß dort von hundert überhaupt Sterbenden höch­stens vier an der Lungenschwindsucht er­liegen und auf 10 000 Lebende höchstens i 8,7 der Krankheit zum Opfer fallen. Ein Todesfall infolge irgend welcher scrophulöser Leiden im Kindesalter kommt nur äußerst selten vor, und, was sehr be-