Heft 
(1881) 299
Seite
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_ Berieke: Nordseeluft

Fall ist. Diese mit der Wärmeentziehung verbundene Erregung der Hautnerven darf als eine ganz specifische Wirkung der Luftströmungen am Meeresstrande betrach­tet werden und verleiht denselben eine in keiner Weise zu ersetzende Eigenschaft. Möglich, daß dabei nicht nur die mecha­nisch physikalischen Einwirkungen der stark bewegten Luft, sondern auch die in der Nordseeluft suspendirten Salztheilchen eine Rolle spielen.

Für den größten Theil des Jahres, und insonderheit im Sommer und Spät­herbst, herrschen auf unseren Nordsee­inseln die weichen West- und die wenig harten Nordwestwinde vor. Nur im Frühling gewinnen in der Regel die Ost­winde die Vorhand. Aber auch diese sind infolge ihres Strömens über weite Wasser­flächen auf den Inseln stets weicher als auf dem Festlande, und sie bedingen dort eine geringere Gefahr als hier. Und kommen einmal Tage mit orkanartigen Stürmen sind sie denn mehr zu fürchten als die Jnvernos in Oberitalien, die Föhne der Alpen oder die Mistrals der mittelländischen Nordküste? Die Insu­laner selbst liefern den Beweis, daß diese Luftbewegungen keine schädliche Potenz sind, und zarte, verweichlichte, ängstliche Gemüther werden in dem Kampfe mit den Luftwellen bald der Art erstarken, daß der Kampf ihnen zum Genuß wird. Der Blick auf das vom Sturm gepeitschte, schäumende, gewaltige Meer bringt sie der Gottheit näher. Der Ernst so gewaltiger Naturbilder bleibt nicht ohne Einfluß aus das Wachsen innerer Kraft.

Doch wie verhält es sich mit den Luft­temperaturen aus den Nordseeinselu? Sind sie nicht der Art, daß man Besorg- niß hegen muß, die constitutionell Schwa­chen, die scrophnlösen und schwindsüchtigen Kranken ihnen auszusetzen? Das Vor- urtheil, daß diese Kranken nur in die süd­lichen Klimate geschickt werden dürfen, daß die Wärme für sie erforderlich sei, ist so alt und so weit verbreitet, daß die Frage sehr natürlich erscheint. Aber was hat uns Davos gelehrt? Dort in einer Höhe von 1556 m, in monatelangem Eis und Schnee, leben gegenwärtig allwinterlich vierhundert bis fünfhundert Brustkranke, und wir haben nicht erfahren, daß ihnen die Kälte schadet. Und welche Vorstellung macht man sich

und N ordseehospize.

denn von der Temperatur auf Norderney? Man weiß im Allgemeinen, daß die Lufttemperatur am Meeresgestade im Sommer stets kühler, im Winter wärmer ist als auf den benachbarten Continenten. Speciell aber ergiebt sich aus den Beob­achtungen der meteorologischen Stationen, wie sie in den Veröffentlichungen des königl. preuß. statistischen Büreaus zu­sammengestellt sind, daß es in der That auf Norderney im Winter sogar um etwas wärmer ist als in Frankfurt a. M., daß dort niemals so hohe Extreme der Tem­peratur Vorkommen wie hier, daß sich allerdings die Frühlingswärme auf der Insel später entwickelt als aus dem Con- tinent, dafür aber auch die Herbst- und Winterkälten später eintreten wie hier. So liegt in den dortigen Temperaturen kein Grund zur Besorguiß, und wenn dennoch Bedenken sich erheben sollten, so darf wie­der einfach auf die Insulaner selbst ver­wiesen werden, in deren Wohlergehen ein schädlicher Einfluß der Lufttemperatur in keiner Weise hervortritt.

Sollen und müssen wir nach allem die­sem unsere Nordseeluft und Nordseeinseln nicht hoch halten? Sollen wir länger anstehen, sie in vollem Maße für die con- stitntionell Schwachen, die Scrophnlösen und Schwindsüchtigen zu verwertheu? Es muß tiefer und tiefer in das Bewußt­sein unserer Nation eindringen, daß dort im Norden eine herrliche Quelle der Stärkung fließt, daß der Nordseeinselstrand oder die Helgoländer Klippen nicht nur Tummelplätze für Gesunde und Erholungs­bedürftige sind, sondern daß sie eine der wichtigsten Heilpotenzen bilden für Kranke und zwar auch für Schwerkranke, deren Leben auf dem Continent verloren zu gehen droht. Je weiter und tiefer sich diese Anschauung Bahn bricht, um so mehr werden dann auch die Einrichtungen auf den Inseln der Art getroffen werden, daß dem Kranken die behagliche Häuslich­keit und der erforderliche Comfort des Lebens nicht fehlt. Daß dieser überhaupt in der Mehrzahl der Wohnungen auf den Inseln noch fehlt, ist der beste Beweis dafür, daß man unsere Nordseeinseln noch kaum als Heilstätten für schwer Erkrankte zu betrachten gewohnt ist.

Wir haben bis dahin nur von der Luft am Meeresufer und auf den Inseln der