Heft 
(1881) 299
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Jltust riete Deut

Nordsee gesprochen. Es ist eine weit verbreitete Anschauung, daß man vor­zugsweise oder nur des Bades wegen dort­hin gehe, und wir wollen die Bedeutung des letzteren nicht unterschätzen. Aber darüber kann kein Zweifel walten, daß unter den heilsamen Factoren am Meeres­strande die Luft die erste Stelle ein­nimmt und das Bad, wenn auch für manche Kranke sehr nützlich, für viele doch bedeutungslos, für manche selbst nachtheilig ist. Man darf das Nord­seebad nicht vergleichen mit dem Bade im mittelländischen und adriatischen Meere, auch nicht mit dem Bade in der Ostsee. Am mittelländischen und adriatischen Meere läßt man die in den dortigen Hospizen verweilenden Kinder in der Regel sogar zweimal täglich baden, und an der Ostsee steht das Bad unter den heilsamen Fac­toren ebenfalls im Vordergründe. Es ist dies eine durch die Erfahrung geheiligte Consequenz der weit geringeren Wirkungs­größe der Luftströmungen, welche an die­sen Gestaden herrschen. Man will durch den Aufenthalt an den Seeküsten eine maßvolle Steigerung der Arbeit des Or­ganismus und daraus resultireude Kräfti­gung erzielen, und wo die Luftströmungen nicht kräftig genug sind zur Erreichung dieses Zieles, fügt man die Bäder in offener See hinzu, ähnlich wie man sich in den Kaltwasser- und anderen Heil­anstalten des kalten Elements bedient, um eine Kräftigung des Organismus zu er­reichen. Die höhere Temperatur des Meereswassers am mittelländischen und adriatischen Meere gestattet dabei eine mehrfache tägliche Anwendung des Bades selbst bei Kindern. Ganz anders an der Nordsee, und namentlich an der deut­schen, holländischen und belgischen Küste. Die Intensität der Luftströmungen bildet hier schon an und für sich einen so mächtigen Factor, daß es der Erregung des Nervensystems und der Wärmeent­ziehung durch das Bad selten noch be­darf, und das Bad selbst mit seinem kräf­tigen Wellenschläge, der oft nicht uner­hebliche Kampf mit den gewaltsamen Wogen sind oftmals der Art aufregend, daß darin unter Umständen selbst eine Gefahr, sicher wenigstens die Ursache einer schädlichen Ueberreizung liegen kann. Wer eine genügende Resistenz besitzt, der mag

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an der Nordsee den ununterbrochen auf ihn einwirkenden Luftströmungen noch das Bad in der See hinzufügen, zumal au Tagen, an welchen der Wind gemäßigt und die Lufttemperatur relativ hoch ist. Aber der verlockende Genuß des Kampfes mit den Wellen darf das Urtheil nicht be­stimmen. Unter allen Umständen führt das Nordseebad eine beträchtliche Be­schleunigung der Herzthätigkeit herbei; es steigert die Lebensvorgänge, wenn auch nur auf kurze Zeit, auf eine erhebliche Höhe; es erregt das Nervensystem in einem im ersten Augenblick täuschend an­genehmen, aber oft zu hohen Grade; es entzieht dem Körper ein nicht unbeträcht­liches Quantum Wärme. Diesen Wir­kungen hält der geschwächte Organismus nicht Stand, so wohlthuend ihm vielleicht auch die ersten Bäder erscheinen. Alsbald stellen sich die Erscheinungen der Ueber­reizung ein. Die Patienten werden appe­titlos, schlaflos und verstimmt. Störun­gen des Magens und der Verdauung stellen sich um so leichter ein, als durch das Bad zunächst eine Steigerung des Nahrnngsbedürfnisses erzeugt wird, der geschwächte Organismus die größere Menge von Nahrung aber nicht zu verarbeiten vermag. Für diese schwachen Constitu­tionen, mit denen wir uns hier vorzugs­weise beschäftigen, ist deshalb das Nord­seebad in der großen Mehrzahl der Fälle nicht nur ganz überflüssig, sondern häufig genug sogar schädlich, und insonderheit zarte Kinder und Frauen, oder Männer, bei denen ein Lungenleiden in der Ent­wickelung begriffen ist, müssen davor ge­warnt und mit Nachdruck darauf hin­gewiesen werden, daß für sie die Luft des Meeres allein schon ein mächtiger und vollauf genügender Factor der Genesung ist. Die Zahl der am Meeresstrande der Nordsee von Kranken vorgebrachten Klagen wird sich voraussichtlich um ein Erhebliches mindern, wenn diese Auf­fassung von den Wirkungen der Luft einer­und des Bades andererseits genügend Beobachtung findet.

Ich wüßte kaum einen Krankheits­zustand zu nennen, welcher in dem Bade in der See ein souveränes Heilmittel fände. Immerhin ist dasselbe in seinen Wirkungen sehr hoch zu schätzen bei In­dividuen, welche, mit gesunden Organen