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Jltust riete Deut
Nordsee gesprochen. — Es ist eine weit verbreitete Anschauung, daß man vorzugsweise oder nur des Bades wegen dorthin gehe, und wir wollen die Bedeutung des letzteren nicht unterschätzen. Aber darüber kann kein Zweifel walten, daß unter den heilsamen Factoren am Meeresstrande die Luft die erste Stelle einnimmt und das Bad, wenn auch für manche Kranke sehr nützlich, für viele doch bedeutungslos, für manche selbst nachtheilig ist. — Man darf das Nordseebad nicht vergleichen mit dem Bade im mittelländischen und adriatischen Meere, auch nicht mit dem Bade in der Ostsee. Am mittelländischen und adriatischen Meere läßt man die in den dortigen Hospizen verweilenden Kinder in der Regel sogar zweimal täglich baden, und an der Ostsee steht das Bad unter den heilsamen Factoren ebenfalls im Vordergründe. Es ist dies eine durch die Erfahrung geheiligte Consequenz der weit geringeren Wirkungsgröße der Luftströmungen, welche an diesen Gestaden herrschen. Man will durch den Aufenthalt an den Seeküsten eine maßvolle Steigerung der Arbeit des Organismus und daraus resultireude Kräftigung erzielen, und wo die Luftströmungen nicht kräftig genug sind zur Erreichung dieses Zieles, fügt man die Bäder in offener See hinzu, ähnlich wie man sich in den Kaltwasser- und anderen Heilanstalten des kalten Elements bedient, um eine Kräftigung des Organismus zu erreichen. Die höhere Temperatur des Meereswassers am mittelländischen und adriatischen Meere gestattet dabei eine mehrfache tägliche Anwendung des Bades selbst bei Kindern. — Ganz anders an der Nordsee, und namentlich an der deutschen, holländischen und belgischen Küste. — Die Intensität der Luftströmungen bildet hier schon an und für sich einen so mächtigen Factor, daß es der Erregung des Nervensystems und der Wärmeentziehung durch das Bad selten noch bedarf, und das Bad selbst mit seinem kräftigen Wellenschläge, der oft nicht unerhebliche Kampf mit den gewaltsamen Wogen sind oftmals der Art aufregend, daß darin unter Umständen selbst eine Gefahr, sicher wenigstens die Ursache einer schädlichen Ueberreizung liegen kann. Wer eine genügende Resistenz besitzt, der mag
che Monatshefte.
an der Nordsee den ununterbrochen auf ihn einwirkenden Luftströmungen noch das Bad in der See hinzufügen, zumal au Tagen, an welchen der Wind gemäßigt und die Lufttemperatur relativ hoch ist. Aber der verlockende Genuß des Kampfes mit den Wellen darf das Urtheil nicht bestimmen. Unter allen Umständen führt das Nordseebad eine beträchtliche Beschleunigung der Herzthätigkeit herbei; es steigert die Lebensvorgänge, wenn auch nur auf kurze Zeit, auf eine erhebliche Höhe; es erregt das Nervensystem in einem im ersten Augenblick täuschend angenehmen, aber oft zu hohen Grade; es entzieht dem Körper ein nicht unbeträchtliches Quantum Wärme. — Diesen Wirkungen hält der geschwächte Organismus nicht Stand, so wohlthuend ihm vielleicht auch die ersten Bäder erscheinen. Alsbald stellen sich die Erscheinungen der Ueberreizung ein. Die Patienten werden appetitlos, schlaflos und verstimmt. Störungen des Magens und der Verdauung stellen sich um so leichter ein, als durch das Bad zunächst eine Steigerung des Nahrnngsbedürfnisses erzeugt wird, der geschwächte Organismus die größere Menge von Nahrung aber nicht zu verarbeiten vermag. — Für diese schwachen Constitutionen, mit denen wir uns hier vorzugsweise beschäftigen, ist deshalb das Nordseebad in der großen Mehrzahl der Fälle nicht nur ganz überflüssig, sondern häufig genug sogar schädlich, und insonderheit zarte Kinder und Frauen, oder Männer, bei denen ein Lungenleiden in der Entwickelung begriffen ist, müssen davor gewarnt und mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß für sie die Luft des Meeres allein schon ein mächtiger und vollauf genügender Factor der Genesung ist. — Die Zahl der am Meeresstrande der Nordsee von Kranken vorgebrachten Klagen wird sich voraussichtlich um ein Erhebliches mindern, wenn diese Auffassung von den Wirkungen der Luft einerund des Bades andererseits genügend Beobachtung findet.
Ich wüßte kaum einen Krankheitszustand zu nennen, welcher in dem Bade in der See ein souveränes Heilmittel fände. — Immerhin ist dasselbe in seinen Wirkungen sehr hoch zu schätzen bei Individuen, welche, mit gesunden Organen