Heft 
(1881) 300
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672 Illustrirte Deuts

Stillen daraus wohl einen Menschen zu­sammensetzen, der in der That die Liebe seiner Familie verdiente. Aber es war doch nicht eigentlich seine Gestalt, welche ihre Phantasie beschäftigte, wenn sie sein Arbeitszimmer betrat. Eine andere, be­stimmtere Gestalt schwebte ihr vor, wäh­rend ein nicht so bestimmtes Etwas sie in diesen! Räume anheimelte. Hier in dem alten Lehnsessel zu sitzen, während Kon- radine geschäftig umher waltete, die Blicke träumerisch an den Wänden entlang und zu dem oben gemalten blauen Luftraum hinauswandern zu lassen, wurde ihr ein stiller Genuß, der, wenn auch nur Minuten lang gekostet, ihr Herz für den Tag freudig bewegte.

Inga wußte sich, zur Genngthuung ihrer Umgebung, in den nächsten Tagen freier und umgänglicher zu geben. Viel trugen die Briefe Rolfs dazu bei, welcher fleißig schrieb, beglückt über die Aufnahme, die er bei seinem neuen Lehrer gefunden; wie er zwar Alles, was er gelernt, wieder verlernen müsse, um von vorn anzufangen, aber zugleich wisse, daß er nun aus dem rechten Wege sei. Inga beschloß, ihrer­seits auch wenigstens auf dem rechten Platze zu sein oder ihren Platz richtig auszufüllen. Sie gab sich Mühe, und es gelang. Von Tag zu Tage sprach die Hausfrau eine größere Zufriedenheit mit der Anstelligkeit ihrer Pflegebefohlenen ans. Und wenn die beiden Mädchen in einer Nachmittagsstunde bei einer kleinen weiblichen Arbeit mit der Mutter znsammensaßen, dann konnte Inga plötz­lich ihre Augen mit freudiger Bewegung von der einen zur anderen richten und mit einem stummen Blicke sagen, wie dankbar sie die ruhige innere Wandlung empfinde, die sich in ihr vollzogen hatte.

So wurden die Frauen eines Tages von Herrn von Schellborn getroffen. Er war heiter und angeregt wie immer, wenn er das Haus betrat, und mittler-

chc Monatshefte.

weile kam die Rede auch auf Roderich, und zwar nannte Paul ihn bei seinem väterlichen Namen Roderich Klingstein. Bisher war immer nur von dem Sohne oder dem Bruder die Rede gewesen, und wenn Inga auch wußte, daß derselbe ein Adoptivsohn des Hauses sei, so war sie noch nie darauf gekommen, daß er einen anderen Namen als den der Familie tragen könnte. Der Name Klingstein aber durchzuckte sie wie ein elektrischer Schlag; als ob mit silbernem Hammer auf einen Zauberstein geschlagen würde, daß eine ganze geträumte Welt bei dem Widerhall plötzlich auftauchte, so fühlte sie ihr Innerstes aufgeweckt, zugleich mit Freude und Schreck. Die Mutter erkannte den Zug der Ueberraschnng in dem Gesicht des Mädchens und sagte erklärend:Unser lieber Pflegesohn hat den Namen seiner Eltern beibehalten. Es ist glaublich, daß Sie ihn in der kurzen Zeit Ihres Hier­seins noch nicht gehört haben." Und dann zu Paul Schellborn gewendet, fuhr sie fort:Haben Sie schon die Photographie gesehen, die der Vagabond uns im Früh­jahr gesendet hat?" Konradine zog ein Schubfach, in welchen! sie allerlei kleine Schätze zu bewahren Pflegte, und reichte dem Gaste das Bild. Er lachte, fand es vortrefflich und gab es an Inga weiter. Ihre Hand zitterte, als sie das Blatt empfing, ein Schauer überrieselte sie bei dem Anblick desVagabonden", wie die Mutter ihn genannt hatte. Ja, ja! Dieses Gesicht und diese Gestalt kannte Inga! Feingeschnittene, geistvolle Züge; klare, tiefblickende Angen; ein schlanker, hoher, vornehmer Körperbau. Er trug einen breitkrämpigen Filzhut mit eineni Tannenzweige, das Ränzel auf den: Rücken, die Botanisirbüchse über der Schulter, den Stab in der Hand und die Kleidung so wenig elegant, als eine Fußreise sie beansprucht oder gar znrichtet. Inga nahm ihre ganze Fassung zusammen,