Heft 
(1881) 300
Einzelbild herunterladen

und ohne aufzublicken, gab sie das Bild Konradinen zurück. Sobald die erste Möglichkeit sich bot, das Zimmer zu ver­lassen, eilte sie in ihr Gemach, schob den Riegel vor und warf sich, von einem Sturm der Empfindungen ergriffen, in einen Sessel. Ein grelles Licht flog ihr mit entsetzlicher Klarheit über die Lage, in der sie sich befand. Der Mann, dessen Bild im Stillsten ihrer Seele lebte, fern, unnahbar, den sie wie eine Gottheit an­betete, der war auch der Geliebte, war so gut wie der Verlobte der Tochter des Hauses! Seine Ankunft erwartete man. Wie sollte sie seine Gegenwart ertragen? Wie dem Hause entfliehen, das ihr gast­liche, ja liebevolle Aufnahme gewährte? Sie schlug die Hände vor das Gesicht, als wollte sie nichts von dem sehen, was da vor ihr aufstieg, aber ihre Erinnerung führte sie zurück in einige glückliche Tage, die für ihr inneres Dasein bestimmend gewesen waren.

Als sie vor etwa fünf Monaten mit ihrem Bruder den Wohnort der verstor­benen Mutter verlassen hatte, um ihrem bestimmten Ziele entgegenzureisen, wurde Rolf im Angesicht der herrlichen Gegend, welche sie im Fluge durchfuhren, von einem unwiderstehlichen Drange ergriffen, dieselbe mit mehr Genuß auf fröhlicher Wanderung zu dnrchmessen. Die Bar­schaft ward gemustert, und nach genauer Berechnung stellte sich ein Ueberschuß heraus, mit welchem man getrost acht Tage lang zu Fuß in den Bergen nmher- streifen konnte, vorausgesetzt, daß jeder Aufwand dabei vermieden würde. Rolf jubelte ans, und Inga, um seine Freude nicht zu stören, überdies gewöhnt, sich zu fügen, willigte ein. Den Koffer schickte man voraus, und mit leichtem Gepäck begann die Wanderung. Auch Inga wurde schon nach den ersten Stunden durch die ihr noch unbekannte Freude ergriffen, ganz ungebunden durch den

Monatshefte, N. 360. September 1881. Bic^

Wald zu schweifen, die Vögel singen zu hören und die köstliche Bergluft zu athmen. Es war noch auf der ersten Tagwanderung, als die Geschwister am Waldwege aus­ruhten und ihre frugale Mahlzeit hielten, welche sie für unterwegs mitgenommen hatten. Da kam, ein Liedchen pfeifend, ein junger Mann die gleiche Straße ge­gangen. Mit halbem Gruß faßte er an seinen Hut und wollte vorübergehen; aber er schien sich schnell zu bedenken, blieb stehen und fragte artig, ob es gestattet sei, den Schatten zu theilen? Rolf, gleich zur Geselligkeit gestimmt, lud ihn ein, Platz zu nehmen. Der Wanderer, welcher zwei ordentlich gekleidete junge Leute vor sich sah, den Jüngling von offener und an­genehmer Gesichtsbildung, das Mädchen von überraschender Schönheit, fühlte sich gefesselt und begann ein Gespräch im Tone der guten Gesellschaft, wie es sich unter Fremden, die einander begegnen, gerade bot. Inga mischte sich kaum darein, ihr Bruder aber redete desto unbefangener, erzählte, daß sie Geschwister seien, und verrieth ohne Umstände den Wanderplan für die nächsten Tage. Der Fremde stellte sich ebenfalls vor, und zwar als Naturforscher Namens Klingstein; den Doctortitel ließ er bei Seite. Die drei jungen Leute brachen endlich gemeinsam auf und schritten fürder. Sie kamen in die fröhlichste Stimmung, und bald sangen sie wenigstens zwei von ihnen -, daß der Wald widerhallte. Und es war Frühling, wundervoller Frühling! Die Buchen standen in jungem Grün, der Rasen war bedeckt mit Anemonen, und die Sonnenstrahlen riefen überall neues Leben zu Tage. Hatte Inga Furcht gehabt vor dem plötzlichen Anschluß des Dritten, der eben mitging, als könne es gar nicht anders sein, so fühlte auch sie sich jetzt freudig belebt, und es überrieselte sie ein holder Schauer, wenn sie den Wanderer singen hörte, wenn seine nnd ihre Augen

e Folge, Bd. VI. 36. 43