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JNustrirte Deutsche Monatshefte.
bald rüstete sich die Gesellschaft unten zum Aufbruch nach der Stadt. Rolf war in lebhafter Unterhaltung mit dem Capellmeister, der ihm die Hand schüttelte und ihm nochmals einschärste, sich zum Bahnzuge früh um fünf Uhr ein-" znfinden. Der munteren und lachenden Stadtgesellschaft folgten in einiger Entfernung die drei Reifegefährten. Rolf aufgeregt und gesprächig, die beiden anderen schweigsam und ihren Gedanken nachhängend. Sie zogen noch einmal gemeinsam in das Wirthshaus und theilten die Abendmahlzeit. Dann aber stand Klingstein plötzlich vor den Geschwistern mit Hut und Stab, das Ränzel auf dem Rücken. Er wollte mit dein Nachtzuge abreisen. Schon stand der Omnibus, der ihn nach dem Bahnhofe führen sollte, vor der Thür. „Wir müssen scheiden," sagte er. „Ihr Beide geht morgen nach dem schönen Lahnthal, wohin ich euch nicht folgen kann. Wir wollen das kurze Beisammensein nicht vergessen! Lebt wohl!" Er ergriff Jnga's Hand und sah sie an mit einem Abschiedsblicke, so tief und ernst, als müßte er sich innerlich mit Gewalt losreißen. Dann eilte er hinaus, Rolf ihm nach bis vor die Thür. Jnga's Herz schlug zum Zerspringen. Vom Fenster aus sah sie im Scheine der Laternen, wie Klingstein ihren Bruder mit Heftigkeit umarmte und küßte, dann in den Wagen sprang und, ohne zurückzublicken, davonsuhr. -
Diese Erinnerung überkam das Herz des jungen Mädchens mit ganzer Macht, nachdem sie das getreue Abbild des Freundes, noch dazu in der Wandertracht jener Tage, erkannt hatte. Daß sie es erst nach einigen Wochen ihres Aufenthaltes in Eisenthal zu Gesicht bekommen, mochte daran liegen, daß man hier auf dem Lande keinen großen Cultus mit Photographien treiben konnte und die Albums mit Gesichtern, die den Fremden
nichts angehen, nicht überall auf den Tischen lagen. Eine endlose Reihe von Fragen stürmte durch Jnga's Seele. War es um ihretwillen, daß er zögerte, zu seiner Familie zurückznkommen? Hatte sie ihm selbst doch einst gesagt, ihre Reise ginge nach Eisenthal! Und jetzt trat es ihr deutlich vor die Augen ihres Inneren, daß er überrascht durch die Nachricht gewesen, daß er ernster geworden und wie er sich so unvermittelt schnell verabschiedet hatte. Wenn sie selbst aber der Grund seines Ausbleibens war, durfte sie dann nicht annehmen, daß sie seinem Herzen nicht gleichgültig geblieben? Daß er sich scheute, sie wiederzuseheu? Daß er sich seiner Pflicht gegen Konradiue inne geworden war — oder vielleicht innerlich noch zu kämpfen hatte? Sie sprang aus und durchmaß das Gemach mit unsteten Schritten. Dann schalt und tadelte sie sich selbst über alle diese Fragen. Nur aus ihren Empfindungen waren sie hervorgegangen, wie durfte sie solche Regungen ihm unterschieben? Es mochten ja auch wohl ganz andere triftige Gründe sein, die ihn noch entfernt hielten, ohne jede Beziehung zu ihr selbst. Aber daß sie selbst sich ihrer Liebe in solcher Macht bewußt wurde, erschreckte sie, und um so mehr, wenn sie an Konradine, an das Hans dachte, nicht zuletzt bei dem Gedanken an Roderich. Gesetzt, er wäre auch unberührt geblieben von einer Neigung zu ihr, und er käme zurück, würde sie ihr eigenes Herz so bezwingen können, daß weder er noch Konradiue merkten, was in ihr vorging? Und wenn sie es merkten, was dann? Eine Angst überfiel sie; sie fühlte die Beschämung im Voraus; unselige Verwirrung stieg vor ihrer Seele auf. Einen Augenblick schien es ihr, als könnte schnelle Flucht sie retten, Flucht zu ihrem Bruder. Aber sie verwarf den Gedanken wieder. Man würde eine solche Flucht nicht begreifen, zumal sie die Gründe nicht