Heft 
(1881) 300
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Jllustrirte Deutsche Monatshefte.

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nämlich den abkürzenden Weg durch den Wald nahm; auch der Bote konnte noch rechtzeitig in Eisenthal sein. Sie betrachtete den Besitz, welcher sich in ihrem Geldtäschchen befand. Rots hatte ihr beim Abschied das Sümmchen anfge- drungen. Es erschien ihr für die kurze Fahrt ausreichend. Alle diese Ueber- legungen gingen so hastig, daß sie, ob­gleich Alles richtig geplant schien, doch Einiges außer Acht ließ: Ob sie den Weg auch finden werde? Ob auch gleich ein Zug für sie abreisesertig stehen werde? Vor Allen:, ob sie selbständig genug sei, einen solchen Plan dnrchzuführen? Sie, deren Fähigkeit zum Handeln bis dahin noch kaum geprüft, die zur Selbständig­keit nicht erzogen war! Aber auch der reinsten und schüchternsten Seele erscheint im Augenblicke leidenschaftlicher Aufregung das Phantastische und Abenteuerliche zu­weilen als das Mögliche und Richtige, die Möglichkeit einer ruhigeren Lösung aber, wenn sie überhaupt gedacht wird, erschreckender als das Wagniß, welches eigentlich gar nicht in der Natur der ge- ängstigten begründet schien. Inga war gerüstet, eilte mit schnellen Schritten über den Hof und dem Walde zu. Sie war überzeugt, auf dem richtigen Wege zu sein, da derselbe bergan ging, also in gerader Richtung den Hügel überschreiten mußte. Aber ans der Höhe angelangt, fand sie sich am Ende ihres Weges, der in eine breite Waldstraße einlief. Sie stand einen Augenblick rathlos, nach wel­cher Seite sie sich zu wenden habe. Es konnte nur nach rechts sein, wähnte sie. So schritt sie fürder. Aber das Ende des Weges war gar nicht abzusehen, und die halbe Stunde bis zum Ziele mußte verstrichen sein. Ein alter Holzfäller be­gegnete ihr. Er konnte ihr Auskunft geben; aber ihr Herz pochte, sie wagte nicht, ihn anzureden. Der Alte grüßte ehrerbietig, da er sie als eine der Damen

aus der Obersörsterei erkannte, ging vor­über, blieb aber stehen, um ihr verwun­dert nachzusehen. Sie überwand sich, kehrte um und fragte ihn nicht, wie man ani schnellsten nach der Eisenbahn gelange, sondern wohin diese Straße führe? Der Alte nannte den Namen eines ihr unbekannten Dorfes, welches drei Stun­den entfernt liege, immer durch den Wald. So mußte sie sich doch nach der Richtung zum Bahnhof erkundigen. Zu ihrer Ver­wunderung wies der Alte nach einer ganz anderen Himmelsgegend, als sie erwartet hatte. Sie sei stark abgekommen, meinte er. Aber wenn sie diese Straße noch einige hundert Schritte verfolge, so komme links ein Seitenpsad, ans dem sie wohl hingelangen könnte. Inga eilte vorüber und fand wirklich so etwas wie einen Pfad, dem sie folgte. Aber nun kreuzten und verschlangen sich wieder so viele Holz­bahnen, Qnerschneisen und Fußsteige, daß nur ein Waldkundiger sich darin znrecht- finden konnte. Unbekannt mit der Gegend, ohne geübten Ortssinn, endlich zerstreut und mit ihren Gedanken beschäftigt, ver­fehlte sie die Richtung vollends, und als sie sich nach einer halben Stunde nmsah, fand sie sich rathlos in einer Wildniß. Aber es mußte weitergeschritten werden, dem: schon umhüllte die Dämmerung Alles, und kaum noch erkannte sie den mit trockenen Kiefernadeln bestreuten und wenig betretenen Pfad. Er schien ihr endlos. Finsterniß lag um sie her. Kalte Schauer der Einsamkeit, Müdigkeit und Furcht überfielen sie. Die Erschöpfte mußte sich an einen Stamm lehnen, denn ein krampf­haftes Weinen begann unwillkürlich ihre Kräfte zu lähmen. Oben durch die finste­ren Kiefernwipfel ging ein dumpfes, klagendes Rauschen, geisterhaft, melancho­lisch, beängstigend. Es klang der Ver­irrten wie ein überirdischer Gesang, mit drohendem Summen und Mahnen an ihre Seele dringend. Sie raffte die Kräfte