Heft 
(1881) 300
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Jllustrirte Deutsche Monatshefte.

Thronen in den Augen, über die sie doch bald wieder Macht gewann.Wir stan­den so eigenthümlich mit einander, Rode­rich," fuhr sie fort,daß du zu der An­nahme kommen konntest, an mich gebunden zu sein du bist es nicht, Roderich! Du bist ganz frei! Wir Zwei, die wir so ver­traulich mit einander stehen, dürfen ja auch darüber reden. Aber ich bekenne dir, du bist nicht der Erste, mit dem ich darüber spreche. Ich habe mich an die Mutter gewendet, gestern Abend erst, und sie ge­fragt, ob ich dir sagen dürfe, was ich nicht länger aus dem Herzen behalten mochte. Sie war einverstanden, sogar zufrieden damit. Und nun ist mir leicht, daß es vom Herzen ist und wir wieder ganz offen mit einander stehen. Inga wird gesund werden, der Arzt sprach heute früh von Neuem die Hoffnung aus, und dann wer­det ihr einander angehören, und ich werde mit euch glücklich sein!"

O du reine, treue Seele!" sagte Roderich mit einem tiefen Seufzer. Kon- radine aber fiel ihm um den Hals, küßte ihn und rief:Mit diesem Kusse sind wir wieder, was wir als Kinder waren: gute Kameraden, treue Freunde, Geschwister, wie wir zusammen erzogen worden! Und so soll es bleiben! Immer! Immer!" Sie entwand sich seinen Armen und eilte hinaus. Er empfand diese Lösung nicht mehr so, als er sie noch vor Kurzem zu empfinden gehofft hatte, denn es war nur Demüthigung, die er fühlte, nicht innere Befreiung. Gleich darauf trat die Mutter ein.Wir durchleben harte Tage, mein Sohn," begann sie,und es ist mir nicht mehr verborgen, daß du sie nächst unserer Kranken am härtesten zu tragen hast. Das Räthsel, wie Inga in den brennen­den Wald gerathen konnte, ist gelöst. Sie hat uns entfliehen wollen. Unter ihren Sachen fand ich soeben diesen Brief. Die Aufschrift ist an mich, und so habe ich ihn gelesen. Lies auch du, aber bleibe gefaßt!

Bleib' es um unseretwillen du weißt, wie ernst auch des Vaters Gemüth be­schäftigt ist! Bleib' es um deiner selbst willen! Wir Alle müssen jetzt unseren Kräften etwas zumnthen!" Sie reichte ihm den Brief und verließ das Zimmer. Roderich las, und ein neues Schuld­gefühl stand nur drohender in seinem Herzen ans. Jnga's Zeilen lauteten: Thenerste mütterliche Freundin! Ich verlasse Ihr liebes Hans, heimlich, und muß den Vorwurf der Undankbarkeit tragen. Forschen Sie nicht nach der Ur­sache meiner Flucht. Es giebt Geheim­nisse, die man mit in das Grab nimmt. Oder sagt Ihnen eine Vermnthung etwas davon ich fühlte Ihren Blick zuweilen so durchdringend, so lassen Sie es verschwiegen bleiben! Es soll durch mich kein Frieden und kein Glück getrübt werden, und darum muß ich hinweg! Ich gehe zu meinem Bruder. Von dort aus gebe ich Ihnen Nachricht. Verzeihung, beste und gütigste Frau! Und ewigen, unver­gessenen Dank! Inga."

Roderich eilte hinunter in sein Zimmer, um in dem innersten Schauder, welcher ihn erfaßte, von Niemand angeredet zu werden. Gegen sich selbst wendete er nun ankläge- risch die ganze Wucht seines leidenschaft­lichen Schmerzes.Ich war es, ich," so rief er sich zu,der sie in die Flucht jagte! Der dieses reine, holde Geschöpf in Qualen und Schrecken, auf verirrte Wege, durch Nacht und Flammen getrieben! Um unseren Frieden nicht zu trüben, opferte sie den ihren und muß für ihr großmüthi- ges Entsagen Qualen erdulden, die ich verdient hätte, ich, der einzig Schuldige! Wenn es keine Rettung für sie giebt, wie soll ich leben, mit diesem Stachel im Herzen, mit dieser unauslöschlichen Qual im Ge­wissen!" Er hatte Zeit, seine Verzweif­lung durchzukosten, denn er blieb allein, und Niemand hinderte ihn, allein zu bleiben. Jeder im Hause hatte seine dringenden