116
hatte. Es war im späteren Leben gelegentlich wohl der Gegenstand seines Nachdenkens gewesen, warum diese wunderbare Empfindung im Mannesalter so spurlos verschwindet. Jetzt war sie wieder da.
Die Wolke hatte den Mond erreicht, zog unter ihm hin und hüllte Garten und Park in so tiefe Finsterniß, daß Georg kaum die Umrisse des Schlosses erkennen konnte.
Georg erhob sich und schritt langsam dem Hause zu. „Das nenne ich Reminiscenzen feiern!" dachte er. Er streichelte dem Reh noch einmal den schlanken Hals und öffnete dann die Thüre. Als er sie hinter sich schloß, rauschte ein Regenguß nieder.
Der folgende Morgen brachte schönes Wetter, und man beeilte sich, das durchnäßte Heu auf den Wiesen auszubreiten, um es von den warmen Strahlen der Sonne trocknen zu lassen. Wer nur irgend eine Harke führen konnte, war herbeigeeilt; überall bildeten sich rasch arbeitende, aber scherzende und lachende Menschengruppen.
Am Abend begaben sich der Graf, Alice und die Kinder auf die große Wiese am Flußufer, um das Treiben auf derselben in Augenschein zu nehmen. Es war ein köstlicher windstiller Sommerabend, warm aber nicht heiß. Ein frischer kräftiger Heugeruch schwebte zugleich mit den Klängen der Volkslieder, welche die Frauen und Mädchen sangen, über der Wiese, den vielen Menschen ans ihr und den still dahinfließenden Wassern des Stromes. In der Nähe hörte man überall sprechen und lachen, aus der Ferne drang das gleichmäßige Rauschen herüber, das die Sensen der sich in langer schräger Reihe vorwärts bewegenden Schnitter hervorbrachten, indem sie das Gras niederlegten, und der schrille Ton, der entstand, wenn einer von ihnen sein Ziel erreicht hatte und nun langsam mit dem Schleifstein über die Sense fuhr.
Abwärts vom Strom, zwischen Wiese und Feld, erhoben sich, dicht aneinander gedrängt, aber durch einen tiefen Einschnitt getrennt, zwei Hügel von mäßiger Höhe. Der nach Westen gelegene zeigte die Gestalt eines Zuckerhutes, von dem man auf der einen Seite unten ein tüchtiges Stück weggebrochen hat. Auf dem Plateau des mehr nach Osten hin gelegenen ungleich größeren Hügels ragte hie und da noch ein Stück niedrigen Mauerwerks über die rings umher zerstreuten Steinblöcke hervor. Auch am Fuße der Hügel waren unter Haufen von Backsteinschutt noch Reste alter Fundamente zu entdecken, lieber alles hin und um alles her aber wucherte üppiges Gesträuch von Nußbaum, Hollunder und wilder Rose, aus dem zahlreiche verwilderte Birn- und Apfelbäume ihre knorrigen Neste emporhoben. Einer von diesen letzteren krönte auch den Zuckerhut und war so in dem nur mäßig gewellten Lande weithin sichtbar.
Diese Hügel, die man zusammen den Burgberg nannte, bildeten oft das Ziel größerer Spaziergänge für die Bewohner von Rotenhof; man hatte daher in dem Gestrüpp einige Fußpfade angelegt, die mählich zum Gipfel emporführten, und unter dem einzelnen Apfelbaum auf dem Zuckerhut einige Bänke aufgestellt. Auch heute fand der Spaziergang hier seinen Abschluß. Die kleinen Mädchen suchten unter dem Geröll und dem Schutt nach runden Steinen und entfernteil sich dabei weiter und weiter; der Graf und Alice hatten auf einer der Bänke Platz genommen und blickten der scheidenden Sonne nach, die fern im Westen in einem Fenermeer zu versinken schien, in einem Feuermeer, das die Wolken oben am Himmel und Wiese und Strom auf Erden roth färbte, das den Zuckerhut und den Grafen und Alice in rothe Glut tauchte und mit hundert feurigen Zungen aus den Fenstern des Schlosses emporzulecken schien.
Ein kleiner hellgrauer Vogel saß auf der höchsten Spitze eines der Apfelbäume im Thal und sang so süß, als wolle er sterben in seinem Lied. Und wieder überkam den Grafen jene seltsame Sehnsucht aus den Jünglingsjahren, jenes Warten auf ein wunderbares Glück, dem er sich näherte, jenes Bangen vor vernichtendem Unglück, das langsam herangezogen kam. Es war ihm, als ob er der Sonne Nacheilen müsse, sich Hineinstürzen müsse in die rothe selige Glut.
Da sank sie hin, jetzt noch eine Halbkugel, jetzt noch ein Streifen, dann noch ein Strahl. Alice hatte sich erhoben, als ob sie die Scheidende so noch länger sehen könnte, und unwill
kürlich ihre kleine Hand auf die Schulter des Grafen gelegt. Der Gras blieb bewegungslos sitzen, auch seine Seele hielt in Schreck und Angst und Seligkeit den Athen: an. Er wußte jetzt, daß er Alice liebte. Wußte sie es auch schon, daß auch sie ihn liebte? Der Graf blickte gespannt zu ihr empor. In ihren Augen standen Thränen, und aus ihrem Kindergesichtcheu sprach tiefe Rührung; aber eben ans ihrer Haltung ging hervor, daß sie nicht wußte, was sie that, als sie ihre Hand auf seine Schulter legte.
Der Graf athmete erleichtert auf. War sie noch unbefangen, dann konnte noch alles gut werden.
Alice wurde plötzlich ihre Stellung inue und erschrak. „Pardon, Herr Graf," stammelte sie, über und über erröthend und zog ihre Hand rasch von seiner Schulter.
„Bitte, Fräulein Alice," erwiderte der Graf, „ich hoffe, daß wir so gute Kameraden sind, daß Sie nicht zu erschrecken brauchen, wenn Sie Ihre Hand aus meiner Schulter finden."
Noch während der Graf so redete, fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, daß er so nicht mehr sprechen, daß er ihrer Vertraulichkeit nicht noch Vorschub leisten dürfe; aber er beendete den Satz doch.
Alice aber blickte ihn aus ihren großen Augen offen an und rief: „Sie haben Recht, Herr Graf. Ich weiß nicht, woher es kommt; aber es ist mir Ihnen gegenüber zu Muth, als ob ich Ihre Schwester wäre und Ihnen alles, alles anvertrauen müßte."
Der Graf blickte mit tiefer Rührung auf sie nieder. „So wahr Gott lebt," schwur er sich, „Dein Vertrauen soll nicht getäuscht werden, Du schönes Kind! Ich will Dich selbst an einen sicheren Ort bringen, und Du sollst nie eine Ahnung davon haben, au welchem Abgrund Du ahnungslos dahingeschritten bist."
Er erhob sich rasch und ries nach den Kindern. Diese kamen, mit bunten Steinen und rothcn Erdbeeren reich beladen herbei, und alle vier gingen langsam den Wiesenrain entlang dem Schlosse zu.
Der Graf, welcher der auf ihn eindringenden Gefühle Herr zu werden suchte, brachte das Gespräch auf das politische Gebiet. Es war damals eine Broschüre erschienen, die ungeheures Aufsehen erregte und daher auch von den Damen gelesen worden war. Der Graf und Alice standen eigentlich in verschiedenen Heerlagern, und wenn ein anderer Mann gesprochen hätte wie er, so wäre er bei ihr so schlecht weggekommen wie Baron Paul; so aber äußerte sie ihre Meinung nur in der Form von Fragen, Fragen, wie sie eine wißbegierige Schülerin an den alles wissenden, verehrten Lehrer stellt.
Als sie den Schloßhof erreicht hatten, blitzten neben dem hell leuchtenden Abendstern auch schon die anderen Sterne auf.
Der Graf begab sich sofort zu seiner Frau. Er setzte sich ueben sie, strich ihr mit sanfter Hand das volle blonde Haar aus der Stirn und war zärtlich und weich. „Dir arme, arme Frau!" dachte er, während er sie küßte. „Aber Du sollst nie erfahren, wie arm Du bist, und Deiner Ehre soll kein Haar gekrümmt werden." Schuldbewußtfein und Mitleid trieben ihn gleich sehr dazu, heute gegen seine Frau noch zärtlicher und aufmerksamer zu sein als sonst. Er speiste mit ihr zusammen, er las ihr vor und plauderte dann mit ihr von alten schönen Zeiten, in denen ihn so viel Liebe aus seines edlen Weibes Augen angelächelt, in denen er in dem Umgang mit ihr so viel Freude und Glück erfahren hatte. Er liebte sie nicht, er liebte eine andere — das Lieben stand nicht in seiner Macht — aber sein Weib hatte es um ihn verdient, daß es nie davon erfuhr; daß er die Versuchung allein in seinem eigenen Herzen niederwarf, und daß sie nach wie vor glauben mußte, daß er sie liebte.
Während der Graf so seine Frau mit Zärtlichkeit überschüttete und voll Liebenswürdigkeit mit ihr plauderte, und während sie sich seine Zärtlichkeit in ihrer sanften Art gefallen ließ und in ihrer ruhigen Weise auf sein Geplauder einging, hatte sie doch nur den einen Gedanken: „Du lügst, Du lügst! Deine Zärtlichkeit ist nichts als schmachvolles Mitleid, Du liebst mich nicht mehr, Dn liebst die andere!"