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Die Unaufmerksamkeit des hohen Hauses, die schon in bedenklicher Weise Platz gegriffen gehabt, als er nach fünf Vorgängern das Wort ergriffen, hatte sich bereits in den ersten Minuten wieder verloren, und die Landboten, die nicht bereits nach Hause gegangen, waren größtentheils ans dem Restaurationslokale und dem Lesekabinet zurückgekehrt, so daß Herr von Stolp wirklich nicht nur zu den Stenographen und dem Publikum geredet hatte. Und das alles fünfunddreißig Minuten lang; Frau von Stolp hatte genau nach der Uhr gesehen.
„O, Adolph!" rief die glückliche Gattin. „O, Adolph!" Sie stockte.
„Liebes Minchen?"
„Du hast —"
„Was, liebes Kind?"
„Vorzüglich gesprochen!"
„Wirklich?"
„Hast Du die Ausrufe des Erstaunens nicht gehört? Die „Ohs", die „Ahs", das „Nichtig", das „Bravo"?
Herr von Stolp erinnerte sich in seiner Bescheidenheit nicht, diese Laute gehört zu haben.
„O, cs ist begreiflich — meine Blicke hingen an Deiner Person, und ich sah mit Bewunderung und Genugthuung, wie Dich Dein Gegenstand ganz hingenommen hatte. Du erschienst mir impvnirend, riesengroß! Ja, ja, der Dichter — wer war es doch gleich? Schiller, nein, Matthisson hat recht: es bildet ein Talent sich in der Stille; auch mit dem Deinen ist es also geschehen! Dennoch, lieber Adolf, ich anerkenne es freudig: dies habe selbst ich nicht erwartet!"
„Ich auch nicht, Minchen."
„Das macht Deine Zurückhaltung, Deine Bescheidenheit. Sicher ist sie ein Vorzug, aber sie darf wie jede gute Eigenschaft nicht übertrieben werden, sonst wird sie zum Fehler. — Wie sagt der Dichter? War es Schiller oder Matthisson? Er sagt: „Nur Lumpe sind bescheiden."
„Ich glaube, Goethe war es, liebes Minchen."
„Du hast recht wie immer. Bedenke einmal, wie viel schöne Zeit Du ungenützt hast verstreichen lassen —"
„Ungenützt? Du übertreibst, Kind. Bin ich nicht Kirchenpatron, Mitglied des Jagdklubs, Rechnungsführer des landwirtschaftlichen Vereins, Vorsitzender zur Besserung der Wcge- banten, Sekretär des Vereins für Rindviehzucht?"
„Das ist wahr — aber ist das ein Wirkungskreis für Deine Talente? O, Du hättest Dich selbst ans der Tribüne sehen müssen, groß, mächtig, impvnirend! Es ist kein Zweifel, Du bist zum Redner und Staatsmann geboren!"
„Meinst Du, liebes Minchen?"
„Aber kein Tag darf jetzt mehr ungenützt verstreichen," fuhr Iran von Stolp eindringlich fort. Man muß das Eisen schmieden, so lange es glüht! Du mußt schon morgen Schritte thun, um ganz in die staatsmännische Laufbahn einzntreten."
„Meinst Du in der That?"
„Sicher! Auch kann Dir dies nach dem heutigen Triumphe nicht schwer fallen; wer im Rohre sitzt, hat leicht Pfeifen schneiden. Wie sich die Kollegen und Bekannten beim Schlüsse der Sitzung an Dich herandrängten, um Dich zu beglückwünschen. Es ist sonnenklar, man ahnt bereits in Dir den künftigen einflußreichen Staatsmann."
„Allerdings," fuhr Frau von Stolp nach einer Pause fort, „ist die Laufbahn eines Staatsmannes mit mancherlei Unbequemlichkeiten verknüpft. Visiten empfangen, Gesellschaften um sich versammeln, Orden und Dekorationen annehmen; aber sei unbesorgt, lieber Adolf: das alles lernt sich! Schiller, nein Matthisson nennt die Gewohnheit die Amme des Kindes!"
„Ich glaube, des Menschen wolltest Du sagen, liebes Minchen!"
„Einerlei! Und auch Du wirst es lernen, und ich werde Dir mit allen Kräften beistehen. Auch behältst Du ja Hinterhausen, Dein Tuskulum, wie Bismarck sein Varzin!"
Herr von Stolp nickte mit dem Kopfe. „Das behalte ich, Gott sei Dank!" sagte er schmunzelnd.
„Es wird gut sein, wenn Du Dich eine Zeit lang der diplomatischen Carriere zuwendest, wie er es auch gethan hat,"
fuhr Frau vou Stolp fort, „einige Jahre im Auslande können nicht schaden. Wirst Du London, Paris oder St. Petersburg zum Aufenthalte wählen, lieber Adolf?"
Ehe Herr von Stolp antworten konnte, trat Johann mit einer Karte in den Salon und reichte sie seinem Herrn.
„Kreisrichter Winter," las dieser.laut, „wer ist das?"
In diesem Augenblicke schwebte Gretchen trotz der rauschenden Seidenrobe leicht wie eine Elfe ins Zimmer. Schnell hatte sie Mamas noch selbstbewußteres Auftreten bemerkt, und Papas noch heiteren Gesichtsausdruck wahrgenommen. Ihr glücklich liebendes Herz gab ihr den Kommentar dazu.
„Papa hat Erfolg gehabt mit seiner Rede!" dachte sie bei sich selbst, indem sie an das Geburtstags- und Glückskind herantrat und neugierig auf die Karte schaute, die Herr von Stolp noch immer überlegend in der Hand hielt.
„Kreisrichter Winter," las sie hocherfreut. „Papa, das ist ja der liebenswürdige Herr, der gestern Abend so herzlich mit Dir zu plaudern verstand," fuhr sie schmeichelnd fort.
„Das ist ja der saubere Patron, der Rechnungen über zerschlagene Spiegel empfängt!" fiel Frau von Stolp rasch ein. „Wird nicht angenommen, Johann!"
„O, nimm ihn an, er kommt vielleicht, Dich zum Geburtstage zu beglückwünschen," bat Gretchen mit neuer Liebkosung.
„Ungerathenes Kind, bist Du noch immer nicht von Deiner Verirrung geheilt?" erwiderte Frau von Stolp strafend. „Der Herr ist nicht zu Hause, Johann, hörst Du?"
„Ja, ich bin nicht zu Hause!" wiederholte Herr von Stolp mit einem scheuen Seitenblick auf seine Frau.
Johann ging, die Botschaft zu überbringen, kehrte jedoch sogleich wieder zurück. „Der Herr läßt sich nicht abweisen," sagte er, „er verlangt den Herrn in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen."
„Unverschämt!" rief Frau von Stolp. Plötzlich hielt sie inne. „Er kommt vermuthlich als Bittsteller, und will sich Deiner Protektion empfehlen, lieber Adolf," sagte sie milder gestimmt. „Und er ist der erste Bittsteller — ich will es Dir überlassen, ihn zu empfangen — die Mühen und Beschwerlichkeiten Deiner neuen Laufbahn beginnen allerdings zeitig genug."
„Er soll sogleich kommen, Johann," schnitt Gretchen alle weiteren Reflexionen Mamas kurz ab.
Es bedurfte kaum der Aufforderung, denn der Kreisrichter stand bereits hochanfgerichtet in der Thür. Mit feinem Anstande näherte er sich der Gruppe, aber seine Haltung trug nichts an sich von der Demuih eines Bittenden.
„Ich habe die Ehre, mit Herrn von Stolp zu sprechen," sagte er, sich verneigend.
Der Angeredete machte eine stumme Verbeugung.
„Unsere gestern angeknüpfte Bekanntschaft erhält heute eine eigentümliche Fortsetzung, mein Herr," fuhr Kreisrichter Winter etwas gemessen fort.
„Ich verstehe Sie nicht," erwiderte Herr von Stolp.
„Wir bitten zur Sache zu kommen, die Zeit eines Staatsmannes ist kostbar," fiel Frau von Stolp kurz ein.
„Nur um zwei Minuten muß ich bitten. Ich hatte das Vergnügen, Ihrer Frau Gemahlin heute morgen ein Kleidungsstück, einen Schlafrock zu überlassen, den ich selbst nach ihr in einem Magazin erstanden und bereits einige Stunden getragen hatte. Wie mir Ihr Diener verrieth, war der Schlasrock zu einem Geschenk für Sie, mein Herr, bestimmt. Ich vergaß, den Taschen desselben ein wichtiges Papier zu entnehmen, das ich selbst für kurze Zeit dort aufbewahrt —"
„Ja, eine Wirthsrechnung über einen zerschlagenen Spiegel," sagte Frau von Stolp verächtlich.
„Ganz recht, meine Gnädige, aber er enthielt auch noch ein anderes Papier, einen Schatz — wenigstens für mich. Aber dies alles ist es nicht, worauf es augenblicklich ankommt. Die Tasche besagten Kleidungsstückes enthielt zu gleicher Zeit ein Manuskript."
„Was?" frug Frau von Stolp höchlich verwundert, „ein — Manuskript?"
„Ganz recht, das Manuskript meiner Rede, liebes Minchen, entsinne Dich!" sagte Herr von Stolp.