Lewin darüber hinstreifte, ein Chaos zu enthalten schien, und kam mit einem ganzen Arm voll Sachen, die sich unschwer als Ziebinger Weihnachtsreste erkennen ließen, an den Tisch zurück. Es waren Gewürzkuchen, Marzipan und eine langhalsige Flasche Maraschino in Originalverpackung. Auch kleine Spitzgläser brachte er herbei.
Er nahm dann selber Platz, füllte die Spitzgläschen und stieß an auf das Haus Hohen-Vietz. Lewin dankte, Tubal aber ließ „die Arten und Unarten der romantischen Schule" leben. Faulstich war nicht unempfindlich gegen solche Huldigungen und lächelte, während Tubal sortfuhr: „Ich möchte Sie, geehrtester Herr Doktor, nicht gern in ein Gespräch über Dinge verwickeln, die Sie abgethan haben; Uoirm loouta sst; aber eine Bemerkung müssen Sie meiner Neugier zu gute halten, haben Sie nicht Novalis auf Kosten Tiecks überschätzt?"
„Ich glaube kaum," erwiderte Faulstich, der klug genug war, in solchen Fragen eher ein Lob als einen Tadel zu erblicken; „ich glaube kaum, daß er überschätzt werden kann. Die ganze Schule vereinigt sich in dieser Anschauung."
„Auch Tieck? Empfindet er nicht solche Neudekretirung als eine Thronentsetzung?"
„Keineswegs, denn die Neudekretirung geht von ihm aus. Er ist Kritiker genug, um in Novalis die Spitze, die Vollendung der Schule zu erkennen, und er ist ehrlich genug, das, was er erkannt, auch auszusprechen. Selbst auf die Gefahr einer Einbuße eigenen Ruhms."
Das Gespräch verweilte nun bei Novalis, der der Liebling des Doktors war. „Wie wunderbar schön," rief dieser, „sind die Strophen, mit denen er die Reihe seiner „geistlichen Lieder" einleitet. Ich lese Ihnen wenige Zeilen vor, weil ich der Wirkung derselben sicher bin:
„Wenn alle untreu werden,
So bleib' ich dir doch treu,
Daß Dankbarkeit auf Erdcu Nicht ausgestorbeu sei.
Für mich umfing dich Leiden,
Vergingst für mich in Schmerz,
Drum geb' ich dir mit Freuden Auf ewig dieses Herz.
Oft muß ich bitter weinen,
Daß du gestorben bist,
Und mancher von den deinen Dich lebenslang vergißt.
Von Liebe nur durchdrungen Hast du so viel gethan,
Und doch bist du verklungen Und keiner denkt daran."
Der Doktor, der mit von Zeile zu Zeile bewegter werdender Stimme gelesen hatte, legte das Buch aus der Hand; dann fuhr er fort: „Seit dem Paul Gerhardtschen „O Haupt voll Blut und Wunden re." ist nichts ähnliches in deutscher Sprache gedichtet worden. Und das in diesen Zeiten des Abfalls!"
Tubal war bewegter als Lewin; er stand wie alle sinnlichen Naturen unter dem Einfluß schwärmerischen, sich anschmiegenden Wohllauts. Er schritt, während Lewin das Novalisgespräch mit dem Doktor fortsetzte, auf das Fenster zu und sah hinaus. Schulknaben und Mädchen in Pelzmützen und rothen Kopftüchern kamen die Straßen herauf, und jagten und schneeballten sich, während Hunderte von körnerpickenden Sperlingen hin und her hüpften, aber nicht aufflogen. Alles athmete Frieden, und Tubal, der im Anblick dieses Bildes das in stiller Sehnsucht wurzelnde Glück wachsen fühlte, das die Vorlesung der Strophen in ihm angeregt hatte, trat jetzt vom Fenster her wieder an den Tisch und sagte, dem Doktor die Hand reichend: „Wie beneide ich Ihnen diese Kirch-Göritzer Tage! Statt des Geschwätzes der Menschen Schönheit und Tiefe, und dabei die Muße, sich beider zu freuen."
Lewin schwieg. Er kannte zuviel von der Wirklichkeit der Dinge, um zuzustimmen; der Doktor aber antwortete: „Sie haben aus dem Becher nur gekostet; wer ihn leeren muß, der schmeckt auch die Hefen. Und immer höher steigt dieser Bodensatz. Die Bücher sind nicht das Leben, und Dichtung und Muße, wie viel glückliche Stunden sie schaffen mögen, sie schaffen
nicht das Glück. Das Glück ist der Frieden, und der Frieden ist nur da, wo Gleichllang ist. In dieser meiner Einsamkeit aber, deren friedlicher Schein Sie bestrickt, ist alles Widerspruch und Gegensatz. Was Ihnen Freiheit dünkt, ist Ab- i hängigkeit; wohin ich blicke Disharmonie, gesucht und nur ge- ^ duldet, ein Klippschullehrer und ein Champion der Romantik, ! Frau Griepe und Novalis."
Er war aufgesprungen und durchschritt das Zimmer. „Beneiden Sie mich nicht," fuhr er fort, „und vor allem hüten Sie sich vor jener Lüge des Daseins, die überall da, wo unser Leben mit unserem Glauben in Widerspruch steht, stumm und laut zum Himmel schreit. Denn auch unsere Ueberzeugungen, was sind sie anders als unser Glauben! Die Wahrheit ist das höchste, und am wahrsten ist es: „Selig sind, die reinen Herzens sind."
In diesem Augenblick erschien Frau Griepe, die sich mittlerweile geputzt hatte, wieder in der Thür, vorgeblich uni anzufragen, ob sie abräumen solle, in Wahrheit aus Neugier und um sich zu zeigen. Ein Blick innerlichsten Grolls schoß aus dem Auge des Doktors, aber sofort seine Kette fühlend, verzog er den Mund zu einem freundlichen Lächeln. „Wir wollen es lassen, Frau Griepe, später." Damit zog sich die Frau wieder zurück.
Die Freunde hatten sich erhoben; der Nachmittag, der längst angebrochen war, mahnte zum Aufbruch. Tubal reichte dem Doktor die Hand. „Ich habe nichts überhört; Ihre Worte haben mich mehr getroffen, als Sie wissen können." Der Doktor lächelte: „Novalis ist tief, aber das Evangelienwort, das ich eben gesprochen, ist tiefer. Ihnen, lieber Lewin, hat ihn die Mutter Natur ins Herz geschrieben. Und das ist die Gewähr Ihres Glücks."
„Berufen wir es nicht."
Damit trennte man sich. Frau Griepe stand in der Hausthür, um noch einen Gruß zu erhaschen. Sie sah beiden Freunden nach und lachte.
XXII. Helpt mi!
Es schlug vier Uhr, als Lewin und Tubal den Ausgang i des Städtchens erreicht hatten. Wenige Minuten später standen sie am Fluß, und Tubal, der um einige Schritte voraus war, schickte sich bereits an, das steile Ufer hinabzusteigen, als ihm Lewin zurief: !
„Laß uns diesseits bleiben; wir haben hier die große Straße; erst zwischen Neu-Manschnow und dem Entenfang bei der Hohen-Vietzer Kirche gehen wir über."
Tubal war es zufrieden. Sie schritten also eine kleine Strecke zurück, bis sie wieder inmitten einer breiten Pappel - ällee standen, die sie schon fünf Minuten vorher passirt hatten, und nahmen nun ihre Richtung erst auf die Rathstocker Fähre, dann auf das Neu-Manschnower Vorwerk zu. Dieses Vorwerk war halber Weg. Die Straße stieg ein wenig an. Als sie den höchsten Punkt erreicht hatten, wurden sie des Hohen-Vietzer Kirchthurms ansichtig, der auf dem jenseitigen Höhenzuge wie ein Schattenriß im Abendrothe stand.
„In einer Viertelstunde ist es dunkel," sagte Levin, „aber wir können nicht fehlen; jetzt haben wir die Straße, nachher den Thurm."
Tubal nickte zustimmend; aber ihn gesprächig zu machen, ! wollte nicht gelingen. Die Worte des Doktors von dem „Wider- ^
spruch des Daseins" klangen ihm noch im Ohr. Er war da- !
durch in seinem eigenen Thun getroffen worden, mehr noch in dem seines Hauses. Es lag ihm jetzt daran, die kaum an- geknüpfte Bekanntschaft fortzusetzen. Denn so verhaßt ihm alles Predigerhafte war, so tief ergriffen ihn Sätze, die reicher Erfahrung und einer lebhaften Empfindung entstammten.
In Schweigen schritten die beiden Freunde nebeneinander her. Als sie die Rathstocker Fähre zur Linken hatten, war es Abend geworden. Einzelne Sterne blinkten matt; in nördlicher Richtung begann ein Flimmern.
„Ich glaube, der Mond geht auf,'" bemerkte Lewin und wies auf eine Helle Stelle am Horizont.
„So früh?" fragte Tubal mechanisch, und sah sich weiterer