Heft 
(1878) 22
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Die Flucht nach Konstantinopel.

So muß es ausgesehen haben zur Zeit der Völkerwanderung, als von den Feinden gehetzt ganze Stämme mit Weib und Kind, mit Sack und Pack unter Mühe und Noth davon zogen! Das war der erste Eindruck, den ich auf dem Bahnhofe von Konstantinopcl empfing, wo Zug auf Zug mit seinen jammervollen Menschenladungen anlangte und Zug auf Zug mit Brot und Mehl und Kleidern abgeschickt wurde, um den Hilflosen, Verhungernden, Erfrierenden an den verschiedenen Stationen nach Adrianopel zu, wo sie zu Tausenden lagerten, wenigstens das nothdürftigste zur Weiterfristung des Lebens zu überbringen.

Noch näher sollte mir aber dieser Jammer treten, als ich so schreibt ein Berichterstatter derTimes" im Gefolge Jzzet Beys diese Strecke selbst befuhr. Der genannte Adjutant des Höchstkomman- direnden war nämlich mit einer besonderen Sendung an die türkischen Unterhändler im russischen Hauptquartiere betraut und reiste mit einem Extrazuge.

Als unser Zug sich in Bewegung setzen sollte, langte gerade wieder eineLadung" Flüchtlinge an. Ich kann keinen anderen Ansdruck dafür finden. Wie Sardinen waren die Unglücklichen in die offenen Wagen eingepackt, sie schwärmten wie Bienen auf den Dächern der Waggons, waren durchnäßt vom Regen und zitterten vor Külte. An Geist und Körper waren sie so gebrochen, daß sie ohne Dank, ganz mechanisch mit den erstarrten Händen die warmen Suppen zum Munde führten, welche an der Station von mildthätigen Gesellschaften ihnen gereicht wurden. Still, ohne einen Ausdruck des Schmerzes, folgten sie den Beamten, die sie, einer Herde Schafe gleich, in die Moscheen trieben, wo ihnen ein dürftiges Obdach bereitet war. Diejenigen, welche unterwegs vor Külte und Hunger gestorben waren, wurden auf Bahren fortgetragcn: ein Tuch war über ihr Gesicht geworfen. Die Kranken und Sterbenden transportirte man auf Lastwägen oder Packpferden in die Hospitäler. Diese Seene wiederholte sich immer und immer wieder und gab mir zu manchen traurigen Einzelbetrachtungen Anlaß. Ein hübscherKnabe von 11 oder 12 Jahren, der aus Tschirpan stammte, war früh am Morgen allein angelangt; Vater und Mutter hatte er im Gedränge auf dem Bahnhofe in Adrianopel verloren und sowie ein neuer Zug anlangte, suchte er ängstlich nach seinen Eltern; aber jeder Zug brachte ihm neue Enttäuschung. Tröstend sprach ich dein armen Knaben zu, der nach jedem fruchtlosen Versuche sich geduldig auf eine Bank fetzte.Ich kann warten," sagte er dann;sie geben mir hier zu essen. Doch meiner Mutter Kindchen," fügte er hinzu,ward unter­wegs, als wir nach Adrianopel flüchteten, geboren und starb. Und sie war schwach und krank. Ach, wenn sie die Mutter nur nicht auf einem dieser Dinger bringen!" Dabei deutete er auf die Bahren, auf welchen man die Todten fortschaffte.

Nach einiger Verzögerung setzte sich unser Extrazug in Bewegung. Es war ein schauderhaftes Wetter. Der Regen gefror zu Hagel, ein kalter Nordost durchfegte jede Ritze des Wagens, so daß alle unsere Reisedecken uns im geschlossenen Coupo nicht zu erwärmen vermochten. Im Laufe der Nacht trafen wir auf fünf große Züge mit Flücht­lingen; doch erst in Tschorlu stießen wir am anderen Morgen um acht Uhr auf die große Masse des türkischen Exodus. Das Wetter war etwas besser geworden, und hier und da fiel ein Sonnenstrahl auf die mit leichtem Schnee bedeckte weite Ebene Rnmeliens. Eine halbe Stunde lang längs der Bahn vor der Station war der Boden überall mit einer merkwürdigen Menschenmenge bedeckt. Gruppenweise kauerten sie zusammen an Feuern, die durch alte Eisenbahnschwellen unterhalten wurden. Das waren die zerstreuten, auseinandergeworfenen Glieder einer einst leidlich gegliederten menschlichen Gesellschaft, die Ueberreste, das soziale Wrack von Städten und Dörfern. Das magere Zigenner- kind und der feiste türkische Tschorbadschi, der sich bisher von Süßig­keiten ernährt, sie jammerten eintönig, beide gleich bedrängt, um ein Stück harten Zwiebacks. Neben ihnen kräftige Bauern, um einen Karren versammelt, der ihre Familie, die armseligen geretteten Hab­seligkeiten barg. Zu dreien oder Vieren unter eine Zicgenhaardecke znsammengekauert, reichten die frierenden Weiber den schreienden Säug­lingen die Brust, während andere die harten Brotkrusten im kochenden Wasser erweichten. Die Zigeuner allein schienen hier in ihrem Ele­mente zu sein; dies wüste wirre Durcheinander sagte ihnen zu; bettelte doch alles gleich ihnen, und wenn sie eben unter Weinen und Jammern die Hand nach einem Stück Brot ausgestreckt, dann hörte man gleich wieder lautes Scherzen und Lachen unter ihnen. Diejenigen, die da­heim ein besseres Leben gekannt, die türkischen Bürger, fleißige, ordent­liche Leute, die aber auch Hans und Hof verlassen und unter diese jammervolle Flüchtlingsmasse gerathcn waren, sie waren am schlimmsten daran. Schweigend saßen die älteren Männer um das Feuer herum, während Weiber und Kinder nicht die gleiche Ergebung in ihr Schicksal zeigten. Thränen in Strömen rannen ihre Wangen herab, sie zer­schlugen sich die Brust, sie schrieen mit markerschütternder Stimme um Hilfe, sie zeigten ihre kranken und sterbenden Säuglinge!

Die meisten dieser Unglücklichen stammten aus Sofia und den be­nachbarten Gegenden. Ihre Ochsen oder Pferde waren gefallen oder- erschöpft; ihre Nahrungsmittel zu Ende, die Kleider auf dem weiten Wege zerrissen. Alles was sie hatten, waren die schmalen Zwieback­rationen, welche die Regierung vertheilen ließ und die Wärme, welche die brennenden Eisenbahnschwellen ausströmten. Zug um Zug fuhr überfüllt an ihnen vorüber und erlöste sie nicht aus ihrem traurigen Biwak, ans der Winterkälte, dem Regen, dem eisigen Winde. Da

kommt wieder ein Zug! Alles stürzt auf ihn zu. Aber auch er ist vollgestopft, voll im buchstäblichen Sinne des Wortes und die, die darin sitzen, sind seit drei Tagen, seit sie von Hermanli abfnhren, nicht aus­gestiegen, aus Furcht keinen Platz wieder zu finden. Männer, Weiber, Kinder, Kranke Sterbende alles durch einander gepfropft, von Un­rath starrend, vom Regen durchnäßt, vor Külte zitternd, ein entsetzlicher Anblick! Unter den Wagen, in den Hundebehältcrn, höre ich Stimmen. Dort hat man kleine Kinder untergebracht! Die Decke der Waggons ist mit Gepäck überfüllt, und oben drauf sitzt wer nur Fuß fassen kann, lieber die Puffer am vorderen und Hinteren Ende der Waggons hat man quer über Bretter gelegt und auf dieser gefahrvollen Bank sitzen die, die drinnen oder oben keinen Platz mehr finden konnten; ja auf den Trittbrettern, die entlang der Waggons laufen, haben sich einzelne Männer angeklammert, um nur mit fort zu kommen. Und in diesem Zustande sind die 1600 Menschen, welche dieser eine Zug enthält, zwei Tage und drei Nächte langsam, langsam dahingefahren. Sechszehn Leute sind unterwegs gestorben; Hunderte sind todtkrank. Und das ist nur ein Zug von etwa 200, die ähnliche Frachten nach der Hauptstadt fuhren.

Unter solchen Umständen ist es natürlich, daß die an der Bahn harrenden Menschen keinen Platz mehr finden, und doch was würden sie, in ihrer panischen Furcht, nicht dafür geben, noch einen Winkel für sich zu finden. Es sind jammervolle Gruppen, die sich zu den überfüllten Wagen herandrängen. Da war ein Karren znsammengebrochen, davor lag ein todter Büffel und ringsherum ein Knäuel verhungernder armseliger Flüchtlinge, die ihre Arme vergeblich dem Zuge entgegen­streckten. So weit mein Auge über die Landstraße reichte, traf es ans ähnliche Gruppen, zerbrochene Fuhrwerke, todte Lastthiere.

Bei Saidlar wiederholten sich genau dieselben Scencn wie bei Tschorlu, nur war hier eine weit wildere Aufregung, denn unter die Masse hatte sich eine -große Anzahl flüchtender Tscherkessen gemischt, die aus der Nachbarschaft kommend, sich nicht im Zustande elender Ver- hnngerung, sondern in dem eines wüthenden racheschnanbenden Fana­tismus befanden. Als unser Zug hielt, stürzten sie mit blankgezogenen Camas auf denselben zu und erklärten, wir müßten aussteigcn und ihnen die Wagen überlassen. Ich weiß nicht, ob Jzzet Beys Autorität allein genügt Hütte, sie zurückzuweisen; mehr noch veranlasse sie Wohl von ihren: Vorhaben abzustehen, daß unser Zug nur aus zwei Wagen bestand, welche ihnen natürlich nicht genügen konnten. Dann legte sich plötzlich ihre Wnth und ein förmlicher Angstschauer schien sie zu er­greifen. Ein prachtvoll schöner alter Häuptling, mit herrlich geschnittenem Gesichte und hellblauen: Auge, ein Mann, der in: Kaukasus noch gegen die Russen gefochten, kam von panischem Schrecken gelähmt zu uns und schrie:Morgen sind die Russen hier, um Gottes willen Helft uns, daß wir fortkommen!" Und als wir sie auf den nächsten Zug ver­trösteten, war ein vollständiges Verzweiflnngs- und Wuthgeheul die Antwort. Während nnn diese Tragödie an der einen Seite unseres Waggons spielte, hörte ich an der andern ans Fenster klopfen, öffnete und sah einen verschmitzten Burschen dort stehen.Sagt nur," redete er mich an,stehen Pferde und Rindvieh in Stambul jetzt hoch im Preise? Hier laufen Hunderte herrenlos umher, soll ich sie dorthin treiben? Kann ich sie gut absetzen?" So mischte sich auch die Ko­mödie ein.

In Lüleli Bnrgas mußte ich mich von Jzzet Pascha trennen, da dieser fortan, als Parlamentär, nur mit seinem Gefolge unter weißer Fahne reisen durfte. Er empfahl mich an Achmed Ejnb Pascha, der mit 2000 Mann, dem Reste der Armee von Adrianopel hier stand. Aber was für ein armseliger Rest verhungerter, verfrorener Menschen! Als diese Truppe, hier anlangend, keinen Proviant vorfand, da erbrach sie die für den General bestimmten Vorräthe und plünderte alles rein aus, so daß diesem nichts für sich übrig blieb. Von Bestrafung war natürlich keine Rede und Achmed Ejnb telegraphirte nur nach Konstan­tinopel:Wenn morgen nicht Wagen da sind, um den Rest meiner Truppen zurückzuschaffen, dann wird die Desertion eine allgemeine sein und ich kehre ohne einen Mann zurück."

Ein japanischer Chemiker.

Sage einer, daß die Japanesen bei uns nichts lernen. Da stndirt in Berlin ein Herr Kaeta Ukimori Matsmoto, der ans dem fernen Sonnenaufgangslande kam, um bei Professor Hofmann Chemie zu hören. Und er hat es schon tüchtig weit gebracht, so daß er in wissen­schaftlichen chemischen Zeitschriften bereits Abhandlungen veröffentlicht. Wir überlassen es unseren Lesern, darüber nachzudenken, um was es sich hier handelt, wollen ihnen aber den Titel der Arbeit des Herrn Mats­moto nicht vorenthalten, welcher jedenfalls noch mehr Zungenbrechens veranlaßt als sein eigener Name. Der Titel lautet: lllobor äis cksr UrotooatsLllnnllnrsrLillk! nnMllöriAS cliinotlloxzckirto UsnMylearbon- sllnro nnä illrs LsLivlinnA m:r ^IxUnUoinovorntrinsLnro: Üinietllzll- alxllalioinoxrotoontoellusänrs.

Inhalt: Vor dem Sturm. (Fortsetzung.) Historischer Roman von Theodor Fontane. Persönliche Erinnerungen aus den Jahren 1848 50. (Schluß.) Eine unheilvolle Fastnacht. Von Franz W. Freiherr von Ditfurth. Ein muthiger Mann. Mit Porträt des Hofprediger Stöcker. Robe oder Frack. Am Familientische: Karl Güstow. Zn den: Bilde:Willkommen!" von Prof. Gussow. Die Flucht nach Konstantinopel. - Ein japanischer Chemiker.

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Herausgeber: Di. Itovert Aoenig und Weo-or Kermann I'antenius in Leipzig. Für die Redaktion verantwortlich Kilo Ktasing in Leipzig. Verlag der Daheim-Expedition (Welhagcn L Ktastng) in Leipzig. Druck von A. H. Ueuvner in Leipzig.