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und Elfenbein eingelegte Möbeln geliefert als in Paris. Darum ist die Zahl der jungen deutschen Goldarbeiter und Schreiner, die hier Arbeit suchen, stets sehr bedeutend, von den Schneidern und Schustern gar nicht zu reden. Ihre Zahl ist Legion.
Fast ebenso viele Deutsche kommen hierher in der Hoffnung, im Handumdrehen ohne viel Mühe reich werden zu können. „Die Hauptstadt Frankreichs erscheint den Bewohnern anderer Länder als ein Eldorado, wo ein jeder glaubt, sein Glück machen zu können und den Weg zum Reichthnm und zum Ruhm offen zu finden. Die größte Zahl dieser Emigranten dringt von der andern Seite des Rheins zu uns," so schrieb nicht lange vor dem Kriege die „tlsvuo äo l'iimtrnotion xublignsO Damit traf sie den Nagel auf den Kopf. Deutsche Dienstboten, Fabrikarbeiter, Handwerker, Gouvernanten, Kaufleute strömten immer und strömen heute noch ungezählt hierher, weil sie haben reden hören von hohen Löhnen, die hier gezahlt werden, weil sie träumen von jährlichen Renten, hübschen Landhäusern und Millionen, zu denen es einige gebracht, die früher ihresgleichen waren; die meisten, um aus ihren stolzen Träumen gar bald zu einer traurigen Wirklichkeit zu erwachen. Wohl gibt es in den Vorstädten manch altes Ehepaar aus dem Handwerkerstands, das behaglich von einer kleinen Rente lebt, wohl hat manch andere Familie aus dem Arbeiterstande sich so viel erübrigt, daß sie ihre alten Tage sorgenlos in der Heimat zn- bringen kann, wohl gibt es auch einzelne Dienstmädchen, welche durch Fleiß und Treue sich nicht allein ein Vermögen von einigen Tausend Thalern im Laufe der Jahre erworben haben, sondern auch von ihrer Herrschaft eine jährliche Rente von 200 ja 1500 Francs beziehen; es gibt deutsche Kaufleute, die den Stab in der Hand vor Jahrzehnten ohne alle Mittel hierher gewandert sind, durch Fleiß und Umsicht sich empor gearbeitet haben und jetzt ein Vermögen von Hunderttausenden besitzen. Aber dies sind nur Ausnahmen. Die meisten, die mit tausend Masten stolzer Hoffnungen in den vermeintlichen Glückshafen von Paris eingesegelt, haben Schiffbrnch gelitten, sind frühzeitig zu Grunde gegangen, fristen ein elendes Leben im niedrigen Dachstüblein des sechsten oder siebenten Stockes, oder sind froh, wenn sie auf kleinem Boot ohne Habe und Hilfsmittel, zerlumpt und abgerissen, auf Kosten des deutschen Hilfsvereins heimkehren dürfen.
Nur vorübergehend sollen diejenigen Stammesgenossen Erwähnung finden, die aus allen Ständen leider allzu zahlreich zur Schande unserer Nation hierher kommen, um Franzosen und Deutsche zu beschwindeln, die nur vom Schwindel im großartigsten Maßstabe leben. Es gibt unter ihnen solche, die seit Jahrzehnten ein Stadtviertel nach dem andern brandschatzen und es so einznrichten wissen, daß sie in vier bis fünf Jahren den Kreis vollenden, um dann wiederum von neuem zu beginnen. Ein Arm, der als verbrannt in der Binde getragen wird, ohne je verbrannt zu sein, reichlich strömende Thränen über den Verlust der Gattin, die nimmer existirte, müssen die Bundesgenossen bei solchen Schwindeleien werden.
Ueberaus groß ist die Zahl derjenigen jungen Leute, die durch nichts anderes nach Paris geführt werden als durch das Verlangen, „sich recht ungestört amüsiren zu können". Leider werden unter diesem Ausdrucke selten die edleren Genüsse verstanden, die Paris in so überreichem Maße durch die Fülle seiner Kunstschätze, durch seine freundlichen Umgebungen bietet, sondern jene unreinen, unsittlichen Vergnügungen, infolge deren so viele kräftige junge Leute, Jünglinge und Jungfrauen, frühzeitig altern, hinsiechen und ins Grab sinken. Die Versuchung zu einem solchen Leben ist sehr stark. Nicht als ob die Sünde hier häufiger, nackter aufträte als in anderen Städten, o nein, sondern weil sie in einer weniger rohen Form, mit einem gewissen äußeren Anstande auftritt. Man lebt in wilder Ehe zusammen und wird von Seinesgleichen als Mann und Frau behandelt. Kaum ein Mensch läßt es merken, daß er ein solches Verhältniß nicht billige. Dazu kommt, daß die Größe der Stadt es jungen Leuten, die sich anderswo um ihrer Verwandten und Bekannten willen in Zucht nehmen würden, möglich macht, Monate, ja sogar Jahre lang ein solch unsittliches Verhältniß zu verheimlichen.
Diese leichtfertige, frivole Anschauungsweise in Bezug auf die Sittlichkeit im engeren Sinne, das Bedecken und Beschönigen des Lasters durch den Mantel äußeren Anstandes, das Scherzen und Spotten über solche Sünden ist der eigentliche Krebsschaden des Pariser Lebens. Nimmt man dazu, daß in einiger Beziehung die christliche Volkssitte fast ganz geschwunden ist, der Sonntag nirgends systematischer mit Füßen getreten wird als hier, die großen christlichen Feste Weihnachten, Charfreitag, Ostern, Pfingsten kaum mehr begangen werden; umsomehr aber das Neujahrsfest, Fastnacht und Mitfasten, Mariä Himmelfahrt, so mag der Name, „das moderne Babel", den man besonders in Deutschland der Stadt Paris zu geben Pflegt, in gewissem Sinne berechtigt erscheinen. Sehr häufig aber gebraucht man diesen Namen in durchaus ungerechtfertigter Weise als einen Spiegel, der die Zustände unserer deutschen Städte im roseu- farbigsten, tugendsamsten Lichte erscheinen läßt, die Stadt Paris aber als den Pfuhl aller Sünde und alles Verderbens. So wurden einem Elternpaar die bittersten Vorwürfe darüber gemacht, daß es seine Tochter als Erzieherin nach Paris ziehen lasse in dies „Heidennest", und eine Frau aus dem Volke wollte ihrer Tochter Eis auf den Kops legen, weil sie den Wunsch ausgesprochen, mit einer ihr bekannten Familie nach Paris zu ziehen: „Se kunn dat Supen dar wol lehren" (sie könnte dort wohl an den Trunk kommen), und wem wären nicht ähnliche Beispiele von einer solch verkehrten Ansicht über Paris bekannt?
In Wirklichkeit sieht es aber ganz anders aus. Nicht blos in einer Beziehung könnte man in Deutschland von Paris lernen. In bürgerlichen Familien wird die Ehe ebenso heilig gehalten wie in Deutschland, herrscht ein ebenso glückliches Familienleben. Einzelne Skandalgeschichten ändern an dem Ganzen nichts. Ist die christliche Sitte, wie vorher erwähnt wurde, nach einer Seite hin fast geschwunden, so wird sie nach andern weit mehr Werth gehalten, als in Deutschland. Kirchliche Trauungen, Taufen und Begräbnisse werden lange nicht in dem Maße verschmäht, wie in unfern großen Städten.
Gerühmt zu werden verdient auch der außerordentliche Wohlthätigkeitssinn, der in Paris herrscht. Ganz abgesehen von der öffentlichen Armenpflege, die ihre ungeheuren Mittel zum großen Theil wenigstens aus freiwilligen Gaben bezieht, und über zahlreiche, aufs beste eingerichtete Spitäler, Rekonvaleszentenhäuser, Etablissements am Meer zu verfügen hat, in denen ohne alle Schwierigkeit unbemittelte Franzosen und viele Ausländer dazu völlig freie Verpflegung erhalten, leisten einzelne Personen und private Gesellschaften im Wohlthun erstaunliches. Vor einigen Jahren, nach dem Kriege, gründete ein katholischer Geistlicher ohne bekannten Namen in der nicht reichen Vorstadt Auteuil ein Waisenhaus für einige Kinder. Aus dem kleinen Anfang ist schon jetzt eine großartige Anstalt erwachsen, in der 200 arme Kinder Aufnahme gefunden. Die jährlichen Kosten von ca. 150,000 Francs gehen reichlich bei dem Manne ein. Der Inhaber eines bedeutenden Geschäftes im Faubourg St. Honorö gründete allein mit 1^ Millionen Francs ein Versorgungshaus für alte treue Bediente.
Auch innerhalb der protestantischen Kirchengemeinschasten zeigt sich diese Opferwilligkeit. Vor allem zeichnet sich dadurch die dAtiso tibro röloi-mds (d. h. die vom Staate unabhängige, von ihm auch nicht unterstützte reformirte Kirche) aus. Sie hat aus freiwilligen Gaben in allen Stadttheilen Schulen und Gotteshäuser erbaut und erbaut immer neue, besoldet Geistliche und Lehrer ebenfalls aus freien Gaben und bringt dazu noch bedeutende Summen für die Evangelisation der katholischen Landestheile auf.
Es erschien uns Pflicht, uns etwas länger bei Schilderung der guten Seiten des Pariser Volkes aufzuhalten, einmal, um die gründlich falschen Vorstellungen, die man sich in Deutschland über Paris zu machen Pflegt, zu zerstreuen; dann aber auch, weil der geschilderte Wohlthätigkeitssinn der Franzosen einen großen Theil unserer ärmsten Landsleute nach Paris gelockt hat. „Man kriegt hier doch noch ebbes," ist die vielgegebene Antwort, wenn man fragt: „Weshalb seid Ihr hierher gekommen?" Wenn die Franzosen den armen Deutschen gegenüber seit dem Kriege mit ihren Gaben zurückhaltender ge-