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Aus der Blütezeit der Almanache.
Wie ein Engel stand im Sckäferkleive Sie vor ihrer kleinen Hnttenthür; .. -
Seitdem Güttingen im Jahre 1737 Universitätsstadt geworden, galt es für einen Hauptsitz deutscher Gelehrsamkeit, aber den Musen war weder die Stadt noch die Hochschule jemals hold gewesen. Mit boshafter Uebertreibung charakterisirte der geistreiche Kästner noch im siebenten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts das spießbürgerliche Treiben der dortigen Gesellschaft in dem bekannten Epigramm:
O Gräfin, unser Ort kennt keine Dichtertriebe,
Nicht sanfte Regungen von Zärtlichkeit und Liebe;
Hier mußt du, wenn man dir was Gründliches soll sagen,
Nach Würsten und Kartoffeln fragen.
Und doch sollte auf diesem unergiebigen Boden ein dichterisches Unternehmen erblühen, das mit Göttingens Namen geschmückt — ein Stück deutscher Literaturgeschichte repräsen- tirt; ja an diesem feierlichen Gelehrtenhimmel sollte ein jugendlich schwärmerischer Dichterbund wie ein Meteor leuchtend emportauchen, freilich eben so rasch verschwinden, aber doch nicht ohne eine feste Spur für alle Zeiten in der Geschichte unserer Poesie zurückzulassen. Es waren: der Göttinger Musenalmanach und der Göttinger Dichterbund.
Der Dithmarsche Christian Boie und der Thüringer Fr. Wilh.
Götter waren die Väter, des ersten deutschen „Musenalmanach für das Jahr 1770", den sie — unter Kästners wirksamer Förderung — nach dem Vorbilde des Pariser Änmrm« ck68 inusss im Sommer 1769 in Angriff nahmen. Der Göttinger Buchhändler Joh. Christian Dietrich übernahm den Verlag. Anderwärts schon gedruckte und ganz neue Gedichte sollten darin Aufnahme finden, aber die Herstellung ging nur langsam vorwärts, und als endlich im Januar 1770 das Buch zur Versendung fertig lag, war ihm bereits ein Nebenbuhlerin Leipzig unter dem Titel:
„Almanach der deutschen Musen aufdasJahr 1770" zuvorgekommen.
Die beiden Nebenbuhler waren äußerlich sehr verschieden — der Göttinger ein winzig zierliches Büchlein in Sedez von 188 kleinen Seiten, der Leipziger ein stattlicher Oktavband von 314 Seiten.
Der Göttinger enthielt einen ganz gewöhnlichen Kalender mit den üblichen Heiligennamen, der Leipziger hatte diese mit den Namen deutscher Dichter vertauscht; an
Sonn- und Feiertagen standen settgedruckt die bevorzugten — Haller begann das Jahr, Wieland, Gleim und Uz erschienen am Osterfest, Klopstock am Weihnachten, Lessing am Reformationsfeste. Endlich enthielt der Leipziger außer Gedichten (darunter manche gemeinsam mit dem Göttinger) noch einen ausführlichen kritischen Theil: „Notiz poetischer Neuigkeiten vom Jahr 1769" und eine „Tabelle unserer lebenden Dichter und schönen Geister, nebst ihrem Charakter und diesjährigen Beschäftigungen."
Aber der kleine Göttinger ließ sich durch den Leipziger Konkurrenten nicht entmuthigen. Trotz der Nebenbuhlerschaft desselben, trotz mißgünstiger Rezensionen, trotz der Mißbilligung der Göttinger Professoren setzte Boie fein Werk fort und gab im folgenden Jahre,
Aus dem „Kleinen Taschcn-Calcndcr auf das gemeine Zahr 1793,
mit Kupfern geziert und zu Berlin herausgegeben." Jn32°. Zwei der 12 Chodowiecki scheu Kupfer zu Höltys Elegie auf ein Landmädcheu aus diesem Jahrgauge.
I
Poetische
Blumenlese
Für das Jahr
1776.
Von den Verfassern der bisherigen Göttinger Blumenlefe,
nebst
einem Anhänge die
Freymaurerey betreffend".
Herausgegebcn
von
I. H Voß.
Lauenburg,
gedruckt bey Johann Georg Vercnderg.
Titel und Titelkupfer des Doßischen Musenalmanachs für 1776. 16
als Götter zurücktrat, den Musenalmanach allein heraus. Auf Ramlers und Knebels Rath fügte ernoch demHaupttitel den Nebentitel: „Poetische Blumenlese" zu, einmal um ihn so deutlicher von dem Leipziger zu unterscheiden, dann aber auch, um ihn in Ländern, wo der Kalender gegen das Staatsprivilegium verstieß, ohne denselben zu verbreiten. Die nächsten vier Jahrgänge sind Boies eigenstes Redaktionswerk und zugleich der Glanzpunkt des ganzen Unternehmens. Boies Wohnung war die Herberge der Dichtergenossen — dort sammelten sie sich allwöchentlich — Hölty, Miller, Hahn, auch Bürger und später Voß, und lasen vor, was ihnen die Muse bescheert, und Boie, der Klarblickende, Vielbelesene, kritisirte und korrigirte, und nur was als
das Beste befunden ward, kam zu den Beiträgen der auswärtigen Meister in den Almanach.
Aus diesen Versammlungen entstand 1772 der GöttingerDichter- bund, dessen erste überschwengliche Stiftung in Boies Abwesenheit und gewiß wider seinen Willen improvi- sirt wurde. Er fügte sich aber in das Geschehene und ließ es sich sogar gefallen, daß man ihn nachträglich als Werdomar zum Ehrenpräses machte. Alle Glieder hatten ähnliche schwungvolle Namen. Voß hieß: Gottschalk; Hahn — Teuthart- Miller — Minnehold; Hölty — Ha ining re. Die alten Versammlungen nahmen übrigens ihren gewöhnlichen Fortgang — nur trat der Klopstockskultus und die Freundschaftsschwärmerei entscheidender in den Vordergrund; beides nahm mit der Ankunft der Grafen Stolberg womöglich noch zu. Dazu kamen Demonstrationen gegen die „Wollustsänger". Mit Wielands „Jdris" steckte mau sich die Pfeifen an, ja sein Bildniß, das dem Leipziger Almanach für 1773 beigegeben
war, wurde feierlich verbrannt. In den Musenalmanach brachte der ungestüme Drang und empfindsame Ueber- schwang dieser „Barden- jünglinge" ein neues Leben; er wurde fortan das Organ des neuen Bundes. Der Almanach von 1773 erfreute sich Goethes Beifall; im nächstfolgenden erschien der neuaufge- gangene Dichterstern inmitten der Göttinger Schar, die diesmal durch Bürgers „Lenore" besonders glänzend vertreten war.
Der Göttinger Musenalmanach hatte über seinen Leipziger Nebenbuhler gesiegt, und er blieb auch obenauf, als sein trefflicher Redakteur Boie im Herbst 1774 an Boß sein Amt abtrat und der Bund bald darauf auseinander stob. Aber nur ein Jahr stand der alte Göttinger unter der Redaktion von Voß; denn als dieser — um im Selbstverlag einen höheren Gewinn zu erzielen — den Jahrgang 1776 (dessen Titelblatt wir mittheilen) in Lauenburg drucken ließ, setzte auch der Göttinger Verleger das Unternehmen seinerseits, zunächst unter Göckings Redaktion, fort, ja dieser ursprüngliche alte Musenalmanach hat den neuen Voßischen sogar noch um drei Jahre überlebt und ist erst 1803 eingegangen. Als Göttinger Musenalmanach cursirten sie aber beide fort und fort im Munde der Leute. Und dieser Name bezeichnet