Worte; der Schleier war nun zerrissen, aufgerollt stand die Vergangenheit mit allen ihren Einzelheiten vor ihm. Er sah wieder vor sich das Vaterhaus in der engen Gasse, die treuen Eltern, wie sie ihn mit ihrer zärtlichen Liebe hüteten, die weihevollen Feste, die er als Kind mit ihnen feierte. Er erblickte sich auf dem Wege zum Kloster, den fremden Mann, der ihm entgegenkam, seine anfängliche Freundlichkeit und seine spätere hartherzige Unerbittlichkeit. Immer feuriger und gewaltiger drang der Vater in ihn ein: er stellte ihm die Art und Weise vor, wie Rom seine Tyrannei und Herrschsucht geltend mache, und mit welchem Haß und welcher Grausamkeit es alle Andersdenkenden verfolge. Er fragte ihn, ob er es an- sehen könnte, wie die Kirche mit dem Volke verfahre, aus dem er entsprossen, und ob er annehmen könne, daß dies die Religion der Liebe sei, wie sie sich dessen brüste. Er sprach dann mit Begeisterung von den Vorrechten und Vorzügen seiner Nation, von ihrer göttlichen Wahl und ihrem vormaligen Glanze, von ihrer Standhaftigkeit und Ergebung in Leiden und Verfolgungen, von der Treue gegen den Gott ihrer Väter, welche sie ihm unter den blutigsten Martern, die sie von den Christen zu erdulden hatte, bewahrte. Er sprach von ihrer hohen Sittlichkeit, von ihrem Mitgefühl und ihrer Wohlthätig- keit besonders ihren Brüdern gegenüber, von ihren häuslichen Tugenden und ihrem musterhaften Familienleben, kurz von allen den schönen Eigenschaften, die man ihnen nicht absprechen kann. Dies wirkte. Die Kindesliebe war schon erwacht und loderte nun hell auf; die Volksliebe machte ihre Rechte geltend und brach den Rest des Widerstandes, der noch in des Papstes Herzen sich entgegenstemmte. Der allein auf die Autorität der Kirche gegründete Scholastiker wich dem Sohne und Patrioten. Elchanan war wieder für das Judenthum gewonnen.
Er beschloß seiner hohen Stellung zu entsagan, sein Amt heimlich zu verlassen und den Rest seiner Tage unbekannt unter den Seinigen zu verbringen. Es wurde nun verabredet, wie er — unter allen Menschen der Beobachtetste — seine Flucht bewerkstelligen sollte, und nicht lange darauf wurde der Plan ansgeführt. Als Bauer verkleidet, verließ Papst Victor III den Vatican, um nimmer dahin zurückzukehren, und ließ Clemens im ungestörten Besitz des päpstlichen Stuhls. Sein Verschwinden verursachte wohl eine Zeit lang Aufsehen; aber die Annahme, daß ein Papst freiwillig seine Stellung verlassen könne, lag begreiflicher Weise so fern von den Ansichten aller, daß man sich vielmehr der Vermuthung hingab, die Gegenpartei habe ihn irgendwie bei Seite geschafft.
Fast um dieselbe Zeit mit dem Verschwinden des Papstes erschien im Hause des Rabbi Simeon zu Mainz ein Mann in ärmlicher Kleidung. Niemand wußte, woher er gekommen; niemand erfuhr je, wer er war, nicht einmal die vornehmsten Glieder der Gemeinde; denn die Gefahr, die der Gemeinde zu Mainz nicht allein, sondern dem ganzen jüdischen Volke bevorstand, wenn es entdeckt worden wäre, daß der ehemalige Papst sich als Abtrünniger in ihrer Mitte befinde, war zu groß, als daß man es wagen durfte, irgend jemand in das Geheimniß zu ziehen.
Nur eine einzige außer dem Rabbi wußte darum. Dies war eine Frau in mittleren Jahren mit Spuren früherer Schönheit, welche seit einer Reihe von Jahren als Wittwe still und eingezogen in der Gemeinde lebte und wegen ihrer Frömmigkeit und ihrer in aller Stille betriebenen Werke der Barmherzigkeit bei allen in größter Achtung stand. Sie trat einige Zeit nach dem Erscheinen des fremden Mannes in das Haus des Rabbi Simeon als neues Mitglied desselben ein. In aller Stille wurde sie vom Rabbi selbst dem fremden Manne, seinem Sohne, angetraut. Es war dies keine andere, als jene einst vom Bischof aus der Gefangenschaft befreite Jungfrau. Tag und Nacht lag nun Elchanan in Gesellschaft seines Vaters dem Studium des Gesetzes ob, und bald machte er darin so große Fortschritte, daß er nächst dem Rabbi Simeon für den Geehrtesten in der Gemeinde galt.
Als Rabbi Simeon bald darauf zu seinen Vätern einging, fiel die Wahl der Gemeinde auf den vermeintlich fremden Mann als seinen Nachfolger. Doch dieser lehnte aus dem
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Grunde, daß er des Amtes unwürdig sei, die Wahl mit Entschiedenheit ab, versprach aber auf allgemeines Drängen, dem neuen Rabbiner mit seinem Rathe in allem beizustehen.
Um das Andenken seines Sohnes und dessen merkwürdiges Schicksal der Nachwelt zu bewahren, hatte Rabbi Simeon kurz vor seinem Tode, welcher drei Tage vor dem Ausbruch der Judenverfolgung durch die ersten Kreuzfahrer erfolgt sein soll, ein Synagogengebet verfaßt, welches er den deutschen Gemeinden für ihre Gottesdienste an den höchsten Festtagen anempfahl, und worin der Name seines Sohnes Elchanan sowohl als der Name Adam, den er als Christ getragen hatte, in der Form eines Akrostichons sich befindet.
Nicht lange jedoch war es Elchanan beschieden, sich der Ruhe der Zurückgezogenheit zu erfreuen. Wie er einst auf der höchsten Stufe der Ehre und des Ansehens gestanden, so mußte er jetzt den Kelch der Erniedrigung und des Leidens bis auf die Hefe leeren. Es sollte sich erfüllen, was einst sein Vater in einem Augenblicke der Begeisterung ihm vorher verkündigt hatte. Als der Aufruf Urbans II durch Europa erscholl, welcher die Christenheit zum Kampfe gegen die Ungläubigen und zur Wiedereroberung des heiligen Grabes aufforderte, da erfaßte der fanatische Taumel nicht allein Fürsten und Ritter, sondern auch Bürger und Handwerksmann. Zu diesen gesellten sich bald viele aus dem Pöbel, ja der niedrigste Abschaum der Menschheit, dem es nur darum zu thun war, seine Habsucht und Raubgier zu befriedigen. Anstatt tausende von Meilen unter Mühseligkeiten und Gefahren über Land und Meer zu ziehen, fielen sie lieber über das wehrlose Volk der Juden her und plünderten ihre Habe, von ränkevollen Priestern und fanatischen Mönchen angestachelt und ermuthigt.
Die Inden widerstanden, wie sich erwarten ließ, dieser Aufforderung, und unser Elchanan war einer der ersten, der die Gemeinden Deutschlands zum Widerstande anfeuerte. Er ermahnte sie, fest zu ihrem Glauben zu stehen, jede derartige Zumuthung zurückzuweisen und sich überhaupt in keinerlei Weise an einer Sache zu betheiligen, die nicht nur an und für sich wahnwitzig sei, sondern die auch ihren Brüdern im heiligen Lande Gefahr und Verderben zu bringen drohe. Er ließ es dabei aber nicht bewenden, sondern schrieb eine lateinische Abhandlung, worin er die Gründe, welche für die Kreuzzüge angeführt wurden, in schlagender Weise widerlegte und auf das Schriftwidrige dieses Unternehmens hinwies. Er ging noch weiter. Er hielt auf öffentlichem Markte eine Rede, in welcher er furchtlos gegen die allgemeine Verblendung Zeugniß ablegte.
So viel Kühnheit von Seiten eines Juden sollte nicht ungestraft bleiben. Er wurde als Aufwiegler gegen den Papst und Verächter der Kirche in den Kerker geworfen. Später, da der Verdacht auftauchte, daß er ein Abtrünniger von der christlichen Religion sei, und er dieser Beschuldigung nicht widersprach, wurde er zum Feuertode verurtheilt, welcher auch bald an ihm vollstreckt wurde.
Als die Flamme um ihn aufloderte, stimmte er mit lauter Stimme und frohem Gemüthe ein Loblied an; dann riß er sein Gewand auf, und da soll er, wie die Sage erzählt, den Umstehenden das rothe Kreuz gezeigt haben, welches ihm als Papst auf die Brust eingeätzt worden war.
„Seht!" rief er ihnen mit Aufbietung der letzten Kräfte zu, „sehet, was ich einst unter Euch war! Erkennt Ihr an diesem Zeichen das einstmalige Oberhaupt Eures falschen Glaubens und Eurer bluttriefenden Kirche? Seht, ich zog es vor, mit dem von Euch verachteten und verfolgten Volke Gottes zu leiden und zu sterben, als Eurer Lügenreligion weiter vorzn- l stehen. Ich will lieber der letzte sein unter meinem Volke, als der erste unter Euch! Ich bin ein Jude und sterbe als ein Jude. Höre, Israel, Jehova unser Gott ist ein einiger Gott!"
Mit diesen Worten gab er seinen Geist auf, und bald ward sein Leib eine Beute der Flammen.
So starb Elchanan, Rabbi Simeon des Großen Sohn, der den Stuhl Petri mehrere Jahre als Papst Victor III inne hatte und dann zum Glauben seiner Väter zurückkehrte. Dies geschah im Jahre des Heils 1096 und 4856 nach Erschaffung der Welt nach jüdischer Zeitrechnung.