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Eine Wssegiatur im Innern WrMands.
Von Mn rix Calm.
Nachdruck verboten. Ges. v. II./VI. 7V.
Unsere Touristen beklagen sich, daß das Reisen mehr und mehr seinen Hauptreiz: Neues zu sehen und zu erleben, verliert. Wohin man auch innerhalb unseres Welttheils die Schritte lenkt, man wird immer an Ben Akiba und sein „alles schon dagewesen" erinnert. Aber Rußland macht, oder machte doch zur Zeit meines Dortseins eine Ausnahme von dieser Regel, und besonders auf einem kleinen Ausfluge, den ich von Moskau aus unternahm, trat mir des Neuen, Ungewöhnlichen so viel entgegen, daß der Ausdruck mir oft in den Sinn und auch wohl über die Lippen kam: „Bei uns in Europa ist das anders !" Ich konnte mich gar nicht überzeugen, daß ich noch in Europa weilte!
Es war im Sommer 186., als Herr von L... mich einlud, einige Wochen auf seinem fünfzig Werft von Moskau entfernten Landgute zuzubringen. Seine Frau befand sich schon seit mehreren Monaten dort, und da Herr von L..., dessen Berufsgeschäfte ihm nicht erlaubten, die Stadt auf lange Zeit zu verlassen, für einige Tage dorthin reiste, so bot er mir an, mit ihm zu fahren. Mir war es sehr angenehm, den kleinen Ausflug im Wagen zu machen, statt mit der Eisenbahn, die ich bis auf eine Stunde von dem Gute hätte benutzen können, und so fuhren wir an einem schönen Julimorgen um fünf Uhr früh von Moskau ab.
Unser Fuhrwerk war eine sogenannte Telege, das heißt ein Wagen ohne Springfedern, wie man solche gewöhnlich zu Landfahrten benutzt; doch hatte mein Begleiter die unvermeidlichen Stöße dieser Art von Transportmittel möglichst durch eine Menge Kissen zu lindern gesucht, die allerdings ihren Zweck nach Kräften erfüllten, uns aber die Hitze des Tages noch fühlbarer machten. Der Wagen wurde von drei kräftigen Pferden gezogen, von denen das mittlere eine Glocke trug, die an der Dugg, einem hufeisenförmigen Holze, das sich über dem Halse des Thieres wölbt, befestigt war. Die Pferde sind sich dieser Auszeichnung ebenso Wohl bewußt, wie die Kühe der Alpenherden, und den unseren schien es gar nicht recht zu fein, daß Iwan, der Kutscher, die Glocke festband, um sie erst kurz vor dem Ziele unserer Reise wieder zu lösen.
Um acht Uhr erreichten wir ein kleines Dorf, Tschorue- Sloi, das zum Haltpnnkte bestimmt war. Der Name heißt zu deutsch: „Schwarze Schicht" und rührt her von den Torfgruben, welche sich in der Nähe befinden, doch kann man ihn auch mit: „Schwarzer Schmutz" übersetzen, eine Benennung, die keiner weiteren Erklärung bedurfte, wenn man die Hütten und deren Bewohner ansah. Vor einer dieser Hütten, die größer, wenn auch nicht sauberer, als die übrigen war, hielten wir, und Herr von L... belehrte mich, daß dieses das Gasthaus sei, in dem wir unser Frühstück einnehmen wollten.
Durch einen dunkeln Gang, von dessen Ende her das Grunzen eines Schweines mich begrüßte, gelangten wir in ein geräumiges viereckiges Zimmer, die Gaststube. Sie sah im ganzen besser aus, als ich erwartet hatte. Die eine Wand war zur Hälfte von einem enormen Ofen eingenommen, an den übrigen standen hölzerne Bänke, die am Tage zum Sitzen, in der Nacht als Schlafstätte dienen. Ein großer Tisch stand in der Mitte des Zimmers, und dazwischen hindurch trieben sich verschiedene zwei- und vierbeinige Geschöpfe herum, wie Hunde, Hühner und eine Anzahl halbnackter schmutziger Kinder, die sich schon unten um uns versammelt und uns bis hierher verfolgt hatten.
Mein Reisegefährte packte nun seine Vorräthe aus, die in gesalzener Zunge, gepreßtem Caviar und Käse bestanden, und bat die Wirthin, welche uns unter beständigen Verbeugungen ihre Dienste anbot, um einige Teller. Diese erfolgten auch bald; da ich aber unglücklicherweise durch die halb offene Thür gesehen, wie die Wirthin dieselben mit einem Tuche abgewischt hatte, das zu ganz anderen Zwecken gedient zu haben schien, so suchte ich, ohne diesen Luxus fertig zu werden.
Iwan wartete mittlerweile schon auf uns und ließ feine erfrischten Pferde tüchtig ausholen. Bald aber mußten wir die Chaussee verlassen und einen schlechten Seitenweg Zuschlägen,
der für die Thiere wie für uns selbst sehr beschwerlich war. Vergebens mahnte Herr von L... den Kutscher, langsamer zu fahren. Iwan, durch einen dreißigjährigen Dienst bei seinem nachsichtigen Herrn verwöhnt, war nun einmal entschlossen, das Gut vor der Mittagshitze zu erreichen und erwiderte aus alle Mahnungen „äas, cka.8!" (ja, ja, Herr!), ohne sich sonst irre machen zu lassen. Mein Begleiter und ich stießen uns bald an den Seitenwänden des Wagens, bald aneinander, bis plötzlich eine heftige Erschütterung uns beiden einen Schrei entlockte. Der Wagen war gegen einen großen Stein angeprallt, das rechte Handpferd war gestürzt und blutete stark, während die andern beiden zitternd daneben standen.
Herr von L... stieg aus, die Wunde zu untersuchen.
„Siehst Du, Iwan, die Balinka hat sich eine Ader ausgefallen," sagte er zum Kutscher.
„Erlauben Sie, Gospodin, das ist nicht möglich," erwiderte Iwan mit großer Ruhe, „das Pferd ist erst kürzlich zur Ader gelassen worden, aber die Ader faß am Kinnbacken und nicht am Knie."
Vergebens suchte ihm sein Herr begreiflich zu machen, daß Thiere wie Menschen mehr als eine Ader hätten; Iwan blieb dabei, die Ader befinde sich am Kinnbacken und könne deshalb nicht am Knie fitzen. Indes verband er die Wunde mit feinem Halstuche, so daß wir bald, wenn auch nur langsam, unsere Reise fortsetzen konnten.
Jetzt bog der Wagen in einen Waldweg ein, und Herr von L ... sagte: „Hier sind wir auf meinem Grund und Boden."
Das Gut bestand aus zwei Dörfern mit 120 Seelen — die Frauen wurden bekanntlich nicht mitgerechnet — und etwa viertausend Morgen Land. Mir schien das ein sehr bedeutendes Besitzthum zu sein, ich konnte mich aber bald überzeugen, daß der vierte Theil davon in Deutschland mehr Ertrag abwerfen würde, als hier bei der sehr mangelhaften Bebauung und unter den lässigen Händen der Bauern. Der größte Theil des Bodens bestand aus Wäldern und Wiesen; aber die ersteren waren verwildert und das Gras der letzteren verdorrte oft ungemäht. Als ich Frau von L..., auf ihre Klage hierüber, einmal vorschlug, eine Mähmaschine anzuschaffen, erwiderte sie, das würde das Volk nur noch fauler machen, wozu habe man denn die vielen Hände? Wenige Jahre später aber, nach Aufhebung der Leibeigenschaft, ließ Herr von L... sich doch eine solche Maschine kommen.
Es war zwölf Uhr, als wir das Wohnhaus erreichten. Auf einem Hügel gelegen, mit Wiesen vor der Front und einem hübschen Birkenwäldchen im Rücken, sah es recht freundlich aus, und erst als wir näher kamen, bemerkte ich, daß es sehr baufällig war. Frau von L ..., eine stattliche wohlkonservirte Dame, empfing mich mit all der Herzlichkeit und Liebenswürdigkeit, welche die russische Gastfreundschaft — und wenn sie auch nur eine Dachkammer und ein Glas Thee zu bieten hätte — auszeichnet.
Hier war von einer Dachkammer nun nicht die Rede, im Gegentheil zeigte das weitläufig gebaute Haus großen Reichthum an Zimmern, wenn auch weniger an Möbeln. Durch eine ganze Reihe von größeren und kleineren Gemächern führte mich Frau von L... in dasjenige, welches sie für mich bestimmt hatte. Es war ein freundliches halbkreisförmiges Zimmer zu ebener Erde an der Rückseite des Hauses gelegen und mit einem Balkon versehen, der direkt in das Wäldchen führte. Um die Hälfte des Raumes lief ein niedriger Divan, von übereinander gelegten weißen Kissen gebildet; eine Kommode und ein Tisch vervollständigten das Ameublement.
„Ich hoffe, das Zimmer wird Ihnen gefallen," sagte Frau von L... „Das Wäldchen macht es recht schattig und kühl, so daß Sie nachts weniger von den Mücken zu leiden haben werden."
Nachts? Ich sollte also hier schlafen? Etwas verwundert sah ich mich nach irgend einer Anstalt dazu um.
Meine Wirthin bemerkte es.
„Ah, Sie find vielleicht gewohnt, in einem Bette zu schlafen?" fragte sie.
Ich war im Begriff ihr zu antworten, daß das „bei uns