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in Europa" allerdings Sitte sei, als mir wieder einfiel, daß ich mich wirklich nicht in Asien, sondern noch in Europa befinde. Ich erwiderte also nur, daß ich allerdings gewohnt sei, in einem Bette zu schlafen, mich aber auch sehr gut ohne ein solches behelfen könne.
„O, wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen sechs Betten zur Verfügung stellen," entgegnete meine Wirthin. „Sie stehen alle oben auf dem Söller, aber es ist so umständlich, sie für die wenigen Monate aufschlagen zu lassen, und ohnehin schläft man im Sommer'viel kühler auf einem Divan. Sehen Sie,
Sie sagen Pawlinka nur, ob Sie gern hoch oder niedrig liegen; diese legt Ihnen zwei, drei Kissen, je nachdem, aus einander, diese Spreite darüber — und das Bett ist fertig. Nun aber ruhen Sie sich ein wenig aus, in einer halben Stunde erwarte ich Sie zum Frühstück hier nebenan im Eßsaal."
Ich sah mir mein Zimmer etwas näher an. Es bot eine eigenthümliche Mischung von Eleganz und Verwahrlosung dar.
Die Wände waren mit einer hübschen hellblauen Tapete bekleidet, aber durch eine zerbrochene Fensterscheibe — die man jetzt durch ein rahmenloses Bild verdeckt hatte — waren die Krähen in das Zimmer gedrungen, hatten die Tapete beschmutzt und zerrissen, und die schlimmsten Stellen waren mit Zei- tnngspapier ansgebessert worden. Vor den Fenstern und der Balkonthür hingen reichgestickte Mullgardinen mit blauen Lambrequins darüber; aber Sonne und Staub hatten die ursprüngliche Farbe beider fast unkenntlich gemacht. Das Waschgeschirr bestand aus einem Becken und einer Wasserkanne von gediegenem, reich ciselirten Silber; aber als Toilette diente ein schlechter hölzerner Tisch, und was sonstige Requisiten, wie Seifennäpfchen, Wasserflasche oder Glas anbetrifft, so mußte ich ohne dieselben fertig werden.
Meine Entdeckungen wurden durch die Meldung unterbrochen, daß das Frühstück, d. h. das Gabelfrühstück, aufgetragen sei. Es bestand aus verschiedenen kalten Fleischspeisen, Eiern und einer Art von Spinat, der aber ohne Salz und ohne Fett gekocht war. Ich hielt mich an die zuerst genannten Schüsseln, meine Wirthin aber bereitete sich mit Hilfe des Spinats ein eigenthümliches Gericht, indem sie Pfeffer und Salz, Zwiebeln, Zucker, gepreßten Kaviar und ein Glas des beliebten Getränkes „Quas" genannt, dazu that. Sie versicherte mir, diese Speise bekäme sehr gut, und ich war gern bereit es zu glauben, ohne es an mir selbst zu versuchen.
Um vier Uhr wurde zu Mittag gespeist und zwar sehr gut und reichlich. Besonders schmackhaft fand ich eine Art Schwämme, die in der ganzen Umgegend wuchsen und welche der Koch trefflich zu bereiten verstand. Sie wurden nicht gekocht, sondern mit Pfeffer und Salz bestreut, in der Pfanne in frischer Butter gebacken. Nur eins störte mich bei den Mahlzeiten: die mangelhafte Sauberkeit des Geschirrs. Teller wie Messer und Gabeln trugen häufig noch die Spuren der letzten Mahlzeit an sich, und auf dem schönen silbernen Samowar konnte man seinen Namen schreiben. Meine Wirthin, sonst eine sehr elegante Dame, die mir einmal versicherte, sie habe nie einen Hut für weniger als 30 Rubel gekauft, schien das alles nicht zu sehen, und als ich einmal einen mit Staub bedeckten Teller abwischte, ehe ich mir die Suppe darauf geben ließ, meinte die Dame lachend: „Durch solche Eigenheiten mache man nur sich und seinen Dienstboten das Leben schwer."
Den ihrigen wurde es sicherlich leicht genug gemacht. Wir beide — denn Herr von L. . . war schon nach zwei Tagen wieder abgereist — hatten zu unserer Bedienung: den Koch, den ernsthaften Diener Wassili, der das ganze Haus durch seine Pünktlichkeit beherrschte, und dem wir deshalb den Beinamen „la Aouvarimur" gegeben; Pawlinka, das Kammermädchen, Palagia, die Küchenmagd und einen dreizehnjährigen Sohn Wassilis, Petge (Peterchen) genannt. Man sollte denken, daß fünf Dienstboten für zwei Personen hinreichend gewesen wären; dennoch fand ich die Bedienung sehr mangelhaft, da einer sich stets aus den andern verließ, und Arbeiten überhaupt nicht ihre Passion zu sein schien.
Das Kammermädchen sowie der kleine Petge waren mir zu meiner Bedienung zur Verfügung gestellt, doch machte ich
nur sehr bescheidene Ansprüche an sie. Pawlinkas Dienstleistungen beschränkten sich darauf, die Decke meines Bettes, die ich beim Aufstehen zurückgeworfen, wieder überznlegen, auch ziemlich alles, was man bei einem so einfachen Lager thun konnte, und sich jeden Morgen auf ihre Anfrage, ob sie mir beim Ankleiden behilflich sein könne, eine verneinende Antwort zu holen.
Petge, der dunkle Page, wie wir ihn wegen seiner dunkeln Hautfarbe nannten, hatte die Verpflichtung, mir zu dem kalten Bade, das ich bei der großen Hitze täglich nahm, zu verhelfen; aber obgleich er die Stunde genau wußte, konnte ich es doch selten erlangen, daß er das Gewünschte von selbst brachte. Da Schellenzüge an diesem, wie in den meisten russischen Häusern unbekannt waren, so mußte ich alsdann den Namen meines dienstbaren Geistes durch das ganze Haus erschallen lassen, worauf derselbe von jedem, der ihn vernahm, wiederholt wurde, bis der Chorus zu den Ohren des Vermißten gelangte. Das hielt jedoch oft schwer, da Petge von Natur nicht sehr thätig, jetzt in der heißen Jahreszeit den größten Theil des Tages schlafend zubrachte. Er hatte sich dazu ein besonderes Plätzchen unter einer Hecke ausgewählt, von wo ich ihn öfters holen ließ, wenn ich seiner bedurfte. Daß dies staubige Lager und der Sonnenbrand seinem Teint nicht sehr günstig waren, läßt sich denken, und ich erwartete, ihn mit der Zeit in einen vollständigen Mohren verwandelt zu sehen.
Zu meiner großen Verwunderung aber erschien er eines Tages mit ganz veränderter, ordentlich klarer Gesichtsfarbe. Ich fragte das gerade anwesende Kammermädchen, was er mit sich angefangen habe?
„Nun," erwiderte sie unbefangen, „er wird sich gewaschen haben, das thut er immer von Zeit zu Zeit."
Da ich anfing, mich für den intelligenten Knaben zu interesfiren, so machte ich meine Wirthin daraus aufmerksam, daß es doch schade sei, ihn so ganz ohne Unterricht aufwachsen zu lassen. Sie hatte augenscheinlich nie daran gedacht, gab mir aber vollkommen Recht und versprach dafür zu sorgen, daß er etwas lerne. Am folgenden Tage, von einem Spaziergange heimkehrend, fand ich den kleinen Burschen auf der Treppe vor dem Hause sitzen, ein großes Stück weißen Shirtings auf den Knien, durch das er vermittelst einer dicken Nadel einen Faden weißer Baumwolle zog. Daß Zeug wie Garn ihre ursprüngliche Farbe bereits verändert hatten, versteht sich von selbst. Bei näherer Besichtigung fand ich, daß er eine Reihe großer Löcher benähte — „cordonirte", wie der Kunstausdruck lautet — und Frau von L. theilte mir triumphirend mit, daß sie Petge Arbeit gegeben habe: er solle ihr einen Unterrock sticken!
Ueberhanpt belehrte mich mein längeres Zusammensein mit Frau von L., daß diese Dame noch zu den Barinas (Land- edelfranen) der guten alten Zeit gehörte, mit Ansichten und Eigenthümlichkeiten, wie sie selbst in Rußland noch selten zu finden sind. So hatte sie eine entschiedene Abneigung gegen alles Spazierengehen, die Straße anders als in einer Equipage zu passiren schien ihr unmöglich. Da der Arzt ihr aber Bewegung anempfohlen hatte, so verschaffte sie sich diese auf andere Weise. Sie kaufte sich eine große Drehorgel und ließ allabendlich den langen Diener Wassili hereinkommen, sie zu spielen. Dieser besorgte sein Amt mit der ihm eigenen unzerstörbaren Ernsthaftigkeit, und Frau von L. tanzte dann mit eben so ernsthafter Miene und mit all der Grazie, die ihr eigen war, mutterseelenallein im Saal herum. Ich saß dabei und lachte, mußte aber doch zugeben, daß sie auf diesem etwas ungewöhnlichen Wege allerdings ihren Zweck erreiche.
Uebrigens spielte Frau von L. sehr gut Klavier, war im Sticken und Malen recht geschickt, und wußte ihre Zeit mit diesen Künsten, sowie mit der Lektüre französischer Romane ganz gut auszufüllen. Als Wirthin war sie von der größten Liebenswürdigkeit. Sie war stets freundlich, wenn ich mich zu ihr gesellte, ließ mir aber dabei volle Freiheit für meine eignen Beschäftigungen. So hatte ich sie herzlich lieb gewonnen, und schied nach mehrwöchentlichem Aufenthalte von ihr mit aufrichtigem Bedauern, das sich nicht verminderte, als ich mich nach kurzer Eisenbahnsahrt wieder in dem heißen, staubigen Moskau befand.