Verstimmungen Herr, die der VormittH mit sich gebracht hatte, und sah sich nur flüchtig wieder- daran erinnert, als er beim Herausnehmen seiner Brieftasche das seiner Form und Farbe nach einigermaßen auffällige Billet Kathinkas zur Erde fallen ließ.
„Ei, Vitzewitz," sagte Löschebrand, „ein Billet-doux! Immer neue Seiten, die wir an ihm kennen lernen; nicht wahr, Merwitz?" Dieser bestätigte, und im nächsten Augenblicke war der Zwischenfall vergessen.
Es mochte vier Uhr sein, oder nur wenig später, als Lewin wieder in den Flur seines Hauses trat und sich an dem alten, längst spiegelglatt gewordenen Treppengeländer, die halbweggelaufenen Stufen hinauffühlte.
Er fand oben einen Brief vor, an dessen Aufschrift er, trotz des schon herrschenden Halbdunkels, leicht die Hand seines Vaters erkennen konnte. Die Scheiben glühten noch im Abend- roth. Er trat deshalb an das Fenster und las:
„Hohen-Vietz, den 20. Januar. Lieber Lewin! Das Hohen-Vietzer Ereigniß der vorigen Woche hat Dir Renate mitgetheilt, und Deiner umgehenden Antwort Hab' ich entnehmen können, daß Du das Unglück, denn ein solches bleibt es, mit derselben getheilten Empfindung ansiehst, wie wir alle. Eine niedergebrannte Scheune des Wirthschaftshofes und nun ein in Asche gelegter Flügel des Herrenhauses gewähren freilich keinen erfreulichen Anblick, am wenigsten den der Ordnung; aber sind es denn Zeiten der Ordnung überhaupt, in denen wir leben? lind so stimmen die Brandstätten zu allem übrigen. Nichts mehr davon. Es steht mehr auf dem Spiel, als das.
Unsere Organisation ist beendet. Ich sehe Drosselstein, der mehr Eifer entfaltet, als ich bei seiner reservirten Natur erwarten konnte, beinahe täglich, ebenso Bamme, mit dem ich mich auszusöhnen beginne. Er ist Feuer und Flamme, und seinen beleidigenden Cynismus, von dem er auch jetzt nicht läßt, paart er mit einer Selbsuchtslosigkeit, ja ich muß es sagen, mit einer gelegentlichen Höhe der Gesinnung, die mich in Erstaunen setzt. Nächst ihm ist Othegraven der thätigste. Er hat einen großen Einfluß unter den Bürgern, und die Schüler der beiden oberen Klassen hängen an jedem seiner Worte. Das Pedantische, das ihm sonst eigen ist, hat er entweder abgestreift, oder weil es in einem starken Glauben an sich selber wurzelt, unterstützt es Wohl gar die Wirkung seines Auftretens.
Wenn ich sagte, unsere Organisation sei beendet, so hatte ich dabei nur unser Barnim und Lebus im Auge; an anderen Orten fehlt noch manches, so namentlich in den durch ihre Lage so wichtigen Dörfern jenseits der Oder. Wir diesseits haben eine Landstnrmbrigade gebildet, vier Bataillone, die sich nach eben so vielen Städten unserer beiden Kreise benennen: Bernau, Freienwalde, Müncheberg und Lebus. Die Ordre de Bataille des letzteren wird Dich am meisten interessiren, weshalb ich sie hier folgen lasse:
Landsturmbataillon Barnim-Leb ns.
Kommandirender: Generalmajor von Bamme.
Adjutant: (Vacat.)
1. Kompagnie Hohen-Ziesar: Graf Drossel stein.
2. Kompagnie Alt-Medewitz-Protzhagen: Hauptmann von Nutze.
3. Kompagnie Hohen-Vietz: Major von Vitzewitz.
4. Kompagnie Neu-Lietzen-Dolgerin: (Vacat.)
Nach dem Prinzip, das Du hierin erkennen wirst, verfahren wir überall. An Offizieren ist noch Mangel, weil die Zähl derer, die nur mit Wind von oben segeln können, auch bei uns überwiegt. In zehn oder zwölf Tagen muß trotz alledem alles schlagfertig sein, auch da wo man am meisten zurück ist.
Dies ist in gewissem Sinne zu spät, um so mehr, als es für das, was ich in den Weihnachtstagen vorhatte, auch heute schon zu spät sein würde. Die gesammte französische Generalität, wie mir Othegraven ans Frankfurt, und Krach, der in Küstrin war, von dorther schreibt, ist glücklich über die Oder. In Zobelpelzen und mit immer erneutem Vorspann, an dem es unsere Dienstbeflissenen nicht haben fehlen lassen, sind sie dem Kaiser, der ihnen das Beispiel gab, gefolgt. Der Nachtheil, der uns daraus erwächst, ist unberechenbar; die Beseitigung der Generäle, so oder so (von diesem Satze geh' ich nicht ab) war eben wichtiger, als es die Beseitigung der Armeereste je
werden kann. Vieles ist versäumt, unwiderbringlich verloren. Unsere Politik des Abwartens ist daran Schuld.
Aber eben dieses Abwarten, das uns so vieles versäumen ließ, hat uns vor eben so vielem bewahrt, und wenn nun schließlich zwischen guten und schlimmen Folgen abgewogen werden soll, so ist es möglich, oder — ich zögere nicht, dies Zngeständniß zu machen — selbst sehr wahrscheinlich, daß sich die Wage doch nach der guten Seite hin neigt. Vor drei Wochen glaubte ich, daß es ohne den König geschehen müsse, jetzt weiß ich, und gesegnet sei dieser Wandel der Dinge, daß es mit ihm geschehen wird. Wir werden einen König haben nach alten preußischen Traditionen. Ich wäre vor einem Volkskriege nicht erschrocken, denn erst das Land und dann der Thron, aber wie unser märkisches Sprichwort sagt: besser ist besser.
Ja, Lewin, ein Wandel der Dinge, an den ich nicht mehr zu glauben wagte, er ist da, und die nächsten Tage schon werden ihn der Welt verkünden. Leicht möglich, daß wenn Du diese Zeilen erhältst, der erste der beabsichtigten Schritte bereits geschehen ist.
Und nun höre. Der Hof verläßt Potsdam und geht nach Breslau. Dieser Schritt ist wichtiger, als Du ermessen kannst. Was ihn veranlaßt hat, darüber gehen nur Gerüchte. Es heißt, daß Napoleon beabsichtigt habe, sich des Königs zu bemächtigen, und ihn als Geißel, als Gewähr für die friedliche Haltung des Landes auf eine französische Festung abführen zu lassen. Ich untersuche nicht, wie viel Wahres oder Falsches an diesem Gerüchte ist, es genügt, daß ihm der König Glauben geschenkt hat. Unmittelbar nach der Konfirmation des Kronprinzen, die heute stattfindet, wird der Aufbruch erfolgen. Es geht in fünf Etappen; das Regiment Garde wird diese Uebersiedelung begleiten oder decken. Breslau, Schlesien sind gut gewählt; die Provinz ist die einzige, die keine französische Besatzung hat, und Oesterreich, auf das wir rechnen, ist nah.
Und nun höre weiter!
Auf den 26. ist das Eintreffen des Königs in Breslau festgesetzt; eine Woche später wird er sein Volk zu den Waffen rufen. Der Entwurf zu diesem Aufruf ist in meinen Händen gewesen; er spricht die Sprache, die jetzt gesprochen werden muß, und es ist nur eins, was ihm fehlt: der Feind wird nicht genannt. Aber, Gott sei Dank, es bedarf dessen nicht mehr. Jorks zum Schein verworfene, aber wie ich jetzt mit Bestimmtheit weiß, in allen Stücken gebilligte Kapitulation, dazu der wahrscheinlich morgen schon stattfindende Aufbruch des Hofes, um sich den Launen eines unberechenbaren Bundesgenossen zu entziehen, alles das läßt keinen Zweifel darüber, wem es gilt.
Und in die leere Luft verhallen wird dieser Aufruf nicht. Ich kenne unser Volk. Es ist Werth, daß es besteht, nnd es wird sich für sein Bestehen einsetzen. Das ist alles was es kann. Keiner hat mehr als sich selbst. Wir haben viele Fehler, aber auch viele Vorzüge; es trifft sich, daß wir den Gegensatz von schwarz und weiß nicht blos in unseren Farben haben. Der Sinn fürs Ganze ist seit des großen Königs Tagen in uns lebendig geworden, und sehen wir das Ganze hinschwinden, so schwindet uns auch die Lust an der eigenen Existenz. Denk an den alten Major, der am Tage nach Kunersdorf in unserer Hohen-Vietzer Kirche verblutete. Sein Blutfleck erzählt von ihm bis diesen Tag. Er dachte, daß Preußens letzte Stunde gekommen sei; „ich will sterben, Kinder," ries er, als sie ihn niederlegten, und riß sich den Verband von seiner Wunde.
Und solcher leben noch viele bei uns!
Im übrigen, wir werden einen ordentlichen Krieg haben, Lewin, und ordentliche Fahnen. Hörst Du: ordentliche, preußische, königliche Fahnen. Du sollst mit mir zufrieden sein. Bin ich doch mehr in Dein Lager übergegangen, als Du in das meine. Schreibe bald; noch besser, komme! Alles grüßt: die Schorlemmer, Renate, Marie. Selbst Hektor, der mich groß ansieht und zärtlich winselt, scheint sich melden zu wollen. Wie immer Dein alter Papa B. v. V.
XXXIX. Kleiner Zirkel.
Die Einladung zu Ladalinskis hatte ans sechs Uhr gelautet; der alte Geheimrath, wenn er es vermeiden konnte, liebte nicht die späten Zusammenkünfte. So war es denn hohe