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Wor dem Sturm.
Historischer Roman von Theodor Fontane.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten. Ges. v. 11./VI. 70.
XIII. Ein Billet und ein Brief.
Und solche Gegensätze, wie sie Lewin an jenem Vormittage, der für ihn wenigstens die Schnatermannsche Jagdpartie scheitern sah, beobachtet hatte, brachte von da ab jeder Tag: durch die nordöstlichen Thore der Stadt zog das Elend, durch die westlichen der Glanz des Krieges herein. In den Straßen aber begegneten beide einander und sahen sich verwundert, oft beinahe feindselig an. „So waren wir," sagten die finstern Blicke der einen, aber das entsprechende: „so werden wir sein," erlosch in dem Leichtsinn und der Eitelkeit der anderen.
Unter den Berlinern, die nach ihrer Gewohnheit nicht leicht einen Truppeneinzug der einen oder anderen Art versäumten, nahm sich jeder ans diesem Gegensatz der Erscheinung das heraus, ivas ihm Paßte, und auch in dem Kreise unserer Freunde, das Ladalinskische Haus mit eingeschlossen, gingen die Ansichten darüber weit auseinander, ob der in seinem schmutzigen, am Wachtfeuer halb verbrannten Mantel heranmarschirende Veteran oder der riesige, goldbetreßte und paukenschlagende Mohr des Grenierschen Corps als das richtigere Bild des Kaiserreiches anzusehen sei. Bninski, der mit Hilfe einer nach Polen hin lebhaft geführten Korrespondenz von den bedeutenden Truppenmassen unterrichtet war, die sich eben damals, unter dem Befehl des Vicekönigs, in den Weichselfestungen, im Warschauschen und Posenschen zusammenzogen, sah durch das Eintreffen frischer Divisionen aus dem Süden, von deren Existenz er selbst keine Ahnung gehabt hatte, nicht nur jede momentane Gefahr des Kaiserreichs beseitigt, sondern knüpfte auch an diese scheinbare Unerschöpslichkeit aller Hilfsquellen die weitgehendsten Hoffnungen, während andererseits Jürgaß, Hirschfeldt und von Meerheimb — besonders dieser letztere, der die totale Deroute vor Augen gehabt hatte — an ein Wiederausgehen des napoleonischen Sternes nicht glauben wollten.
„Er mag neue Armeen aus der Erde stampfen," sagte Meerheimb, „aber nicht solche, wie zwischen Smolensk und Moskau begraben liegen."
Lewin, unpolitisch und seiner ganzen Natur nach abhängig vom Moment, kam zu keiner bestimmten Ueberzeugung, und sah das Kaiserreich sinken und sich wieder heben, je nach den heitern oder tristen Seenen, deren zufälliger Augenzeuge er sein durfte.
Am Dienstag waren die meisten der Freunde: Jürgaß, Bummcke, Tubal, dazu Hirschfeldt und Meerheimb nach Potsdam gefahren, wo am darauf folgenden Tage die Konfirmation des Kronprinzen in der Schloßkapelle und daran anschließend Gottesdienst in der Garnisonkirche stattfinden sollte. Tubal machte den Ausflug in Begleitung seines Vaters, der eine direkte Einladung der Feierlichkeit beizuwohnen erhalten hatte. Auch die Gegenwart Kathinkas wäre dem Geheimrath erwünscht gewesen, war aber, zu sichtlichem Verdruß desselben, von der an selbständiges Handeln gewöhnten Tochter abgelehnt worden. Sie kannte nichts ermüdenderes als Ceremonien, namentlich kirchliche, und zog es vor, „zu festlicher Begehung des Tages" sich für Mittwoch Abend — an dem zu später Stunde erst die nach Potsdam hin Geladenen zurückerwartet wurden — bei der schönen Gräfin Matuschka anmelden zu lassen.
Für den folgenden Tag war seit Anfang der Woche schon eine kleine, nur den engsten Freundeskreis umfassende Reunion bei Ladalinskis festgesetzt, zu der selbstverständlich auch Lewin eine Einladung empfangen und angenommen hatte. Er durfte deshalb einigermaßen überrascht sein, am Donnerstag früh ein zierliches, in ein Dreieck zusammengefaltetes und mit blauem Lack gesiegeltes Billet nachstehenden Inhalts zu erhalten: „Lieber Lewin! Ich glaubte Dich vorgestern oder gestern, wo Papa und Tubal in Potsdam waren, erwarten zu dürfen; aber Du verwöhnst mich nicht durch Aufmerksamkeiten. Siehst Du Gespenster? Sei nicht thöricht, Lewin. Ich schreibe Dir, weil ich den Wunsch habe, Dir einen Morgengruß ins Haus zu schicken, und im übrigen nicht sicher bin, ob Du Deine Zusage für heute Abend noch im Gedächtniß hast. Poeten sind ver
geßlich; Verse an mich hast Du schon längst vergessen. Ka- thinka v. L."
Lewin las zwei-, dreimal, sich die Worte wiederholend: „Siehst Du Gespenster?" und „sei nicht thöricht, Lewin". Es war ihm einen Augenblick, als schlösse sich ein tropischer, in berauschendem Dufte schwimmender Garten vor ihm auf, und Kathinka, von einem Bosqnet her, hinter dem sie sich versteckt gehalten, spränge ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen und riefe ihm übermüthig zu: „Schlechter Sucher, der Du bist! Warum konntest Du mich nicht finden?" Aber dann las er wieder: „Poeten sind vergeßlich; Verse an mich hast Du längst vergessen"; und er lachte bitter.
„Dies ist der echte Ton, weil es der spöttischeist! Was sind ihr Verse? O, ich verstehe sie ganz. Ein glücklicher Liebhaber ist ihr nicht des Glückes genug, sie bedarf noch eines unglücklichen, um den Vollgeschmack des Glückes zu haben. Deshalb hält sie mich fest. Das ist die Rolle, die sie mir zu- diktirt! Folie für einen glänzenderen Stein."
Er wollte das Billet zerknittern, und fühlte doch im nächsten Augenblick, daß ihm Wille und Hand versagten. Eine weichere Stimmung überkam ihn, und er berührte die Stelle, die auf Augenblicke wenigstens neue Hoffnungen in ihm angefacht hatte, mit seinen Lippen. Dann faltete er das Blatt zusammen und steckte es zu sich.
Es war ihm klar, daß die nächsten Stunden, wenn er sie an seinem Schreibtische zubrächte, doch für ihn verloren sein würden; so brach er auf, um in der Stadt Zerstreuung zu suchen. Er fand sie rascher, als er erwarten durfte. An der Ecke des Rathhanses standen Hunderte von Personen, um einen in französischer und deutscher Sprache abgefaßten, ans große gelbe Zettel gedruckten Straßenanschlag zu studiren. Er trat hinzu und las über die Köpfe der vor ihm Stehenden hinweg: „Seine Excellenz der Herr Marschall, Kommandant on Ollol des 11. Armeecorps, ist benachrichtigt, daß zu Berlin viele Subalternoffiziere, auch Employös der großen Armee augekommen sind, die ihre Corps, ohne dazu ermächtigt zu sein, verlassen haben. Seine Excellenz befiehlt allen vorgenannten Personen die Stadt zu verlassen, widrigenfalls alle diejenigen, die diesem Befehl nicht genügt haben, durch die Gensdarmerie verhaftet, ihre Namen aber dem Herrn Kriegsminister notificirt werden sollen. Alle Gastwirthe sind angewiesen, keine der in nachstehender Ordre bezeichnet«:« Offiziers bei sich aufzunehmen, und werden im Betretungsfalle in eine näher zu bestimmende Geldstrafe genommen werden. Gez. Augereau, Herzog von Castiglione."
Dieser Straßenanschlag, mehr noch als das 29. Bulletin, das in den Weihnachtstagen erschienen war, enthielt das Zu- geständniß einer vollkommenen Auslösung der großen Armee; die Disziplin war hin, und mit ihr das znsammenhaltende Band. Jeder, der die Bekanntmachung las, empfing diesen Eindruck, und ließ es nach Berliner Art nicht an spitzen Bemerkungen fehlen. „Employös und Subalternosfiziere! Von den Generälen ist keine Rede," sagte der eine; „und von den Marschällen erst recht nicht," fügte ein anderer hinzu. „Gewiß nicht; eine Krähe kratzt der andern die Augen nicht aus." So ging es hin und her, und dazwischen die Versicherung, daß die Berliner Gastwirthe keine französischen Polizeibeamten wären.
Lewin löste sich bald aus dem Menschenknäuel heraus und traf in der Nähe der Stechbahn ein paar Kommilitonen, die sich leicht bereden ließen, ein Kolleg zu opfern und an einem Spaziergange nach Charlottenburg theilzunehmen. Es war ein Merwitz und ein Löschebrand, Landsleute und alte Bekannte schon von den Schulbänken des grauen Klosters her. Sie schritten erst die Linden, dann die große Chaussee hinunter ans das „türkische Zelt" zu, wo sie, da zwölf Uhr mittlerweile längst vorüber war, ein Dejeuner bestellten, das ihnen als Mittagsmahl dienen mochte. Unter lebhaftem Geplauder, das sich abwechselnd um Jork und das Augereausche Plakat, um Spontinis Vestalin und die Konfirmation des Kronprinzen drehte, wurde Lewiu der