Sv verließen sie wieder das Hans und kehrten ans die Dvrfgassc zurück, wo sich inzwischen Alt und Jung um den Chaisewagen und das verdrießlich über die Ledertronuncl (als ob es eine Lvgenbrüstung wäre) hinwegblickende Windspiel versammelt hatte.
„Ich spräche gern noch ein paar Worte mit Dir," sagte der Geheimrath und wies mit leiser Kopfbewegung ans die j Dorsleute, die jetzt ihre neugierigen Blicke mehr ans das herzutretende Paar als auf den Wagen zu richten begannen.
„Laß uns in die Kirche gehen," erwiderte Renate, „die Thür ist offen."
Er war es zufrieden. Sie stiegen über die halbverfallene Feldsteinmauer und schritten, an ein paar Gräbern vorbei, auf dieselbe Seitenthür zu, durch die Lewin am Weihnachtsheilig- abcnd cingetreten war.
In der Kirche war alles öde; nur ans den schwarzen Tafeln standen noch die Nummern der Gesangbuchverse, die man am letzten Sonntag gesungen hatte. Ein scharfes Seitenlicht fiel auf das Altarbild: eine Kreuzigung; Maria und Johannes fehlten und nur eine Magdalena lag auf den Knieen und hielt das Kreuz umfaßt. Es war ein häßliches Bild aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts; die Magdalena trug ein hohes Tempo von rvthblondem Haar, in das große Perlen eingeflochten waren. Der Ansdruck sinnlich und roh. Den Geheimrath verdroß es; er wandte sich ab und suchte nach einem Platz in der Kirche, der ihm Sicherheit vor diesem Anblick gewähren ^ mochte. Er fand ihn auch. Zur Seite des Altars, in eine
! Ecke geschoben, standen vier alte Chorstühle, die, nach ihrem
^ Schnitzwcrk zu schließen, noch aus der katholischen Zeit stammten ^ und bei einer Renovirung der Kirche hier seitab ein Unterkommen gefunden hatten. Der alte Ladalinski zeigte darauf hin, und sie nähmen die beiden vordersten ein.
Jeder scheute sich, von Kathinka zu sprechen. So stockte das Gespräch, noch ehe es recht begonnen. Endlich faßte sich ! Renate nnd sagte: „Ich vermisse Tubal; er war der Liebling der Tante, und nun fehlt er an ihrem Grabe."
„Und doch war es ein richtiges Gefühl, was ihn znrück- ! hielt," erwiderte der Geheimrath.
' Renate sah ihn fragend an.
! „Ein richtiges Gefühl," wiederholte dieser nach einer Pause,
„das Gefühl einer Mitschuld. Ach, meine theure Renate, die Schuld, die wir auf uns laden, tragen wir nicht allein. Andere ! sind gezwungen, sie mitzutragen, lind Tubal empfindet das.
! Er wollte niemand von Euch sehen, nicht Lewin und nicht Dich."
! „Und doch hätte er sich überwinden sollen," sagte Renate.
„Und daß er es nicht that, Onkel Ladalinski, das kann ich ^ ihm nicht zum Guten rechnen, wenigstens nicht zum Guten allein.
! Er gab einem feinen Gefühle nach nnd mißtraute dem unserigen. Das war nicht recht, sonst hätte er wissen müssen, daß wir solche Mitschuld nicht gelten lassen und ihr Bekenntnis; nicht annehmen würden."
Sie schwieg einen Augenblick; dann fragte sie, wie um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben: „Weißt Du, wie die Tante starb?"
„Nein, ich hörte nichts. Alles, was ich erfuhr, erfuhr ich aus einer kurzen Anzeige Deines Vaters. Ich war erschüttert, denn sie hatte meinem Herzen nahe gestanden, und ich mußte mich nun ausrichten an dem, was ihr durch diesen raschelt und unerwarteten Tod erspart geblieben war. Denn sie liebte nicht, ihre Pläne durchkreuzt zu sehen. So durchkreuzt!" Er schwieg eine Weile und setzte dann hinzu: „Und
ihre Pläne, Renate, waren meine Wünsche. Was davon noch übrig ist, leg' ich in Deine Hand."
Renate blickte vor sich hin und erröthete. Daun aber sagte sie rasch und in beinahe heiterem Tone: „Oheim Ladalinski, laß mich offen sein. Ich darf es. Du pochst nicht an
die rechte Thür, und Du weißt es auch; was Du freundlich
in meine Hand legen möchtest, das liegt in einer anderen."
„Nein, Renate, es liegt bei Dir. Ein Herz zwingt das andere. Und ich weiß .. ."
Sie schüttelte den Kopf und wollte antworten; aber beide hörten jetzt draußen ein Kratzen an der Thür, und im nächsten
Augenblick kam das Windspiel den Mittelgang der Kirche herauf, stellte sich, mit unruhiger Kopsbcwegnng bellend und klingelnd vor den Geheimrath und lief dann wieder auf den Seitcn- eingang zurück, immer sich umblickend, ob seilt Herr auch folge.
„Kutscher und Diener werden ungeduldig," sagte der alte Geheimrath; „wir müssen abbrechen."
Damit verließen beide die Kirche und schritten wieder über den Kirchhof auf den Wagen zu, in den das Windspiel eben hinein gehoben wurde. Der Geheimrath nahm seineil Platz neben demselben und streichelte es, während er die Rechte Renaten znm Abschied reichte.
„Ich danke Dir für unser Gespräch; behalte es in gutem Gedächtnis;. Ich bitte Dich darum."
Damit trennten sie sich. Renate trat unter den Vorbau des Kruges und sah dem Wagen nach. Ihre Gedanken waren bei Tubal, und sie suchte sich das Bild desselben vorzustellen; aber es waren immer die Züge Kathinkas, die sie sah.
„Sind sie einander so ähnlich?" fragte sie sich und stieg die Treppe hinauf.
XCIV. Genesen.
Die Nacht über hatten abwechselnd die Krügersfrau und eine alte Frau aus dem Dorfe bei Lewin gewacht; nun war es neun Uhr früh, und Renate und die Schorlemmer saßen wieder au seinem Bette. Er schlief unruhiger als die Tage vorher, und einzelne, freilich nur halb verständliche Worte kamen von seinen Lippen. In dem Zimmer lag ein Heller Mvrgenschein, und das Eis schmolz voll den Scheiben. Sonst war nichts hörbar, als das Zwitschern eines Zeisigs und das Klappern von Tante Schorlemmcrs Nadeln. So verging eine halbe Stunde, während welcher die Frauen vor sich hin oder auf den Kranken sahen. Jetzt traf die Sonne sein Gesicht, und Renate flüsterte: „Sieh, er träumt. Und etwas Freundliches muß es sein." Und ehe die Schorlemmer antworten konnte, gingen draußen die Glocken, nnd Lewin erwachte. Sein erster Blick fiel auf die Schwester. Er erkannte sie und sagte: „Renate".
Diese war aufgesprungen, nahm ihn in ihre Arme nnd rief einmal über das andere: „Mein lieber, lieber Lewin." Taute Schorlemmer strickte weiter, aber ihre Lippen zuckten. ^ Als Lewin sie bemerkte, nickte er ihr zu und gab ihr die Hand.
Es war ersichtlich, daß er noch sehr matt war. Sie legten ihm ein Kissen in den Rücken, daß er mehr saß als j lag, und sein Auge lief nun im Zimmer umher, um sich zu- ^ recht zu finden. ^
„Wo bin ich?"
Sie nannten ihm den Namen des Dorfes. Er schüttelte den Kopf, schien sich aber zu besinnen, und fragte dann: „Wo ! ist Papa?" ;
„In Guse." !
„In Gnse? Warum in Gnse?"
Renate und die Schorlemmer sahen einander an und wußten nicht, was antworten. Aber Renate faßte sich bald und sagte ruhig: „Tante Amelie ist todt."
„So, so . . . wie alt war sie?" !
Es blieb bei der Frage, denn sein Bewußtsein begann ^ wieder zu schwinden, nnd einen Augenblick später lag er abermals in tiefem Schlaf. Und doch war er dem Leben wiedergegeben, er hatte gesprochen, und beide Frauen reichten sich in freudiger Bewegung und wie zum Ausdruck ihres Dankes die Hand.
Nach ein paar Stunden kam der Doktor. Er fand Lewin aufrecht im Bette sitzend. Lewin erkannte den Doktor; als er aber die Linke heben wollte, um sie ihm zu reichen, sank sie matt aus das Bett zurück.
„Wie geht es, Lewin?"
„Ich danke, gut."
„Ich danke, gut! Das ist mir nicht genug. Haben Sie gegessen?"
„Ja, eine Suppe."
„Wie schmeckte die Suppe?"
„Gut."
„Das ist recht. So muß es heißen. Kopfweh?"