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„Nein."
Der Doktor nahm jetzt selber die Hand nnd zählte den Puls. Als er damit geendet hatte, sah er, daß der Kranke vor Erschöpfung wieder eingeschlafen war. „Stören wir ihn nicht."
So verließen sie das Zimmer, und nahmen erst draußen auf der Treppe das Gespräch wieder ans. „Es geht alles wie ! es soll. Krisis überstanden; alle Zeichen der Genesung da. j Kein Fieber; nur matt, matt. Aber jede Stunde Schlaf bringt ihn um eine Woche weiter. Morgen wird er ausstehen wollen, und übermorgen kann er reisen."
„Und wir?"
„Wir reisen morgen schon und bestellen ihm Quartier."
„Nnd schicken ihm Krist und den Planschlitten."
„Getroffen. Den wollte ich eben empfehlen. Und einen tüchtigen Häckselsack in den Rücken. Denn im Kreuz wird cs wohl noch fehlen."
Damit hatten sie den Unterflnr erreicht und standen vor der Gaststube, in der dem Doktor noch ein Warmbier vorgesetzt werden sollte. Aber er dankte, „denn er müsse noch bis Reitwein." Und als die Krügersfrau nichtsdestoweniger sortfuhr, in ihn zu dringen, schnitt er endlich jede weitere Verhandlung durch das eine Wort „Wöchnerin" kategorisch ab. Das half. Tante Schorlemmer wurde noch verlegener als Renate.
Unter dem Vorbau hielt bereits der Wagen des Doktors. Er schickte sich eben an hinaufznsteigen, als er seinen Fuß von dein Tritteisen zurückzog. „Der alte Leist wird alt; hätte die Hauptsache beinahe vergessen," und dabei begann er in den Tiefen seiner Manteltasche herum zu suchen. Endlich fand er ein dickes rothledernes Notizbuch, das zugleich als chirurgisches Besteck diente, und nahm einen Brief heraus. „An Renate von Vitzewitz."
Nun erst stieg er auf. „Auf Wiedersehen in Hohen-Vietz." Renate nnd die Schorlemmer erwiderten seinen Gruß.
Der Brief aber war von Marie.
* 2
Und es kam alles, wie Doktor Leist gesagt hatte. Am andern Morgen verlangte Lewin anfzustehen, und fühlte sich trotz aller Mattigkeit doch kräftig genug das Zimmer zu verlassen, und unten unter dem Vorbau von Renate nnd Tante Schorlemmer Abschied zu nehmen.
Lewin ging dann in sein Zimmer zurück. Er hatte sich mehr angestrengt, als seine Kräfte zuließen, und warf sich jetzt angekleidet aufs Bett, nicht um zu schlafen, wohl aber um zu ruhen. Allerhand Bilder zogen an ihm vorüber, wechselnd und phantastisch, aber immer eines aus dem anderen. Er sah Frau Halens dunkle Küche und den kleinen Wachsstock, den er in der Herdasche mit so viel Mühe angezündet hatte, nnd ans dem Wachsstock ward eine Kerze, und ans der Kerze wurden zwölf Kerzen, nnd alle zwölf brannten zu beiden Seiten eines Sarges, darin aber lag die Tante, die schwarze Wittwenhaube tief in die Stirn gerückt. Und neben dem Sarge standen kleine Cypressenbäume, die wuchsen und wuchsen hoch wie Pappeln, und nun war es eine Pappelallee, und zwischen den Pappeln kam ein Wagen rasch herangefahren, dem lies er nach und wollte rufen, aber die Stimme versagte.
Alles dies kam und ging, und kam wieder, ohne daß es ihn ernstlich beunruhigt hätte. Eine Hand lag auf ihm, nnd unter dem Einfluß einer süßen Betäubung wurde das Nächstliegende wie in weite Ferne gerückt, und das Wirkliche zum Traum. Erregungen der Phantasie, nichts weiter, und von Empfindungen nur eine: die Sehnsucht nach Hohen-Vietz.
Und nun war wieder ein Tag und eine Nacht vergangen; der Helle Morgen schien in die Fenster, und es mochte die zehnte Stunde sein. Krist, der bald nach Mitternacht mit dem Planschlitten und einer ganzen Winterausstattung von Pelzröcken, Shawls und Filzstiefeln eingetroffen war, war bereits im Stalle beschäftigt, den beiden Braunen die Sielen und die Geläute aufzulegen, und die Krügersfran stand in der Stallthür, eben so sehr, um selbst noch zu erzählen, wie um Hohen- Vietzer Neuigkeiten gegen ihre Bohlsdorfer einzutanschen.
Lewin saß reisefertig in seinem Zimmer, während diese
Gespräche geführt wurden. Er hatte schon einen Morgenspaziergang gemacht, nicht ins Freie hinaus, nur in die Kirche hinüber, um noch einmal den Grabsteinspruch zu lesen, den erlangst auswendig wußte. Seit einer halben Stunde war er von da zurück nnd hielt jetzt ein zusammengefaltetes Blatt in Händen, dessen Inhalt ihn zu beschäftigen schien. Es war Mariens Brief, den er sich am Tage vorher, im Momente von Renatens Abreise, von dieser erbeten hatte. „Ich will ihn doch noch einmal überfliegen," sagte er, beugte sich gegen das Fenster vor und las mit halblauter Stimme:
„Liebe Renate! Deinen Brief habe ich gestern Abend, wo Doktor Leist bei uns eben vorfuhr, erhalten; um mit ihm noch persönlich zu sprechen, dazu war keine Zeit; er wollte bei der späten Stunde gleich weiter. Ich las und lief dann in meiner Herzensfreude zum Pastor, der kaum weniger frendig bewegt war als ich. Und doch ist es etwas Trauriges.
Du schreibst: „Warum er Berlin verlassen hat?" und fügst dann hinzu: „Darüber habe ich nur Vermuthnngen, und auch diese kaum." Ach, meine liebe Renate, ich weiß es, und in Traum und Wachen habe ich diese Stunde kommen sehen.
Hier ist alles still, viele Bauern und ihre Frauen sind zum Begräbniß hinüber. Denn sie war doch auf ihre Art beliebt, und jeder sprach von ihr. Auch Seidentopf ist seit einer Stunde fort. Er will erst nach Guse, dann nach Küstrin und Hohen-Ziesar, und wir erwarten ihn erst am Schluß der Woche zurück. Welche seltsame Trauerversammlnng wird um den Sarg der Tante stehen! Bamme, Nutze, Doktor Fanlstich. Und denke Dir, auch Jeetze trauert. Es rührte mich fast, als ich ihn heute sah. Er hat ein paar schwarze Gamaschen hervorgesucht „noch von der gnädigen Frau her," sagte er, und einen Flor.
Meine Gedanken sind beständig bei Euch; sie wandern von einem Giebelzimmer in das andere, und mir ist immer als kennte ich das Dorf. Es ist dasselbe, von dem uns Lewin am ersten Feiertage erzählte, und ich sehe noch alles vor nur: den Christbaum mit der jungen hübschen Krügersfran und den Blondkopf, nnd dann die dunkle Kirche mit der Stehleiter am Altar und der kleinen Handlaterne. Und vor dem Altar liegt der Grabstein mit dem schönen Spruch, den ich mir seitdem Wohl hundert Mal vorgesprochen habe. Mir ist dann immer, als wüchse ich und könnte fliegen."
Hier hielt Lew in einen Augenblick inne und wiederholte sich die Worte: als wüchse ich und könnte fliegen. „Wie gut sie es trifft," setzte er hinzu. Dann nahm er das Blatt, das er aus der Hand gelegt hatte, wieder auf und las bis zu Ende.
„Gebe Gott, daß sich des alten Leist Prophezeihungen erfüllen; er hat versprochen, diese Zeilen wieder mit zurückzunehmen, und ich schicke sie durch Hoppenmarieken nach Lebus.
Sie wartet draußen und stößt mit ihrem Stock ans die Flur- fliesen, ein Zeichen, daß sie ungeduldig wird. Ich fürchte mich !
viel zu sehr vor ihr, um ihre schlechte Laune noch wachsen zu !
lassen. Und so lebe denn wohl, meine einzig geliebte Renate, mein Glück, mein Stolz nnd meine Zuversicht. Grüße die Schorlemmer, und wenn Lewin die Angen aufschlägt, so denke > recht, recht an mich. Dann fühle ich es in meinem Herzen. !
Deine Marie." j
Lewin, als er zu Ende gelesen, erhob sich und trat an den Zeisigbauer, um dem Vögelchen, das ihm die langen Stunden des voraufgegangenen Tages so freundlich weggezwitschert hatte, zu Dank nnd Abschied ein Zuckerstückchen zwischen die ! Stäbe zu stecken. ^
Er wollte sich eben wieder setzen, als Krist eintrat, um zu melden, daß alles fertig und der Schlitten vorgefahren sei. Zugleich bepackte er sich mit der ganzen Winteransstattnng, die s unangerührt ans der Bettdecke liegen geblieben war, nnd stapfte ! wieder treppab, während Lewin ihm folgte. Auf der Thürschwelle blieb dieser noch einmal stehen und sah in das Zimmer zurück. Er war nicht erschüttert, auch nicht eigentlich bewegt (die Nachwehen der Krankheit hielten ihn noch in ihren Banden), aber aller Apathie znm Trotz empfand er doch deutlich, was ihm die hier verbrachten Tage gewesen waren, nnd daß ein Leben hinter ihm versank und ein anderes begann.
(Fortsetzung folgt.)