Issue 
(1878) 40
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Aas sozialdemokratische Aähnkein im Hteichstage.

Bon Fron; Mehring.

Nachdruck verboten. Ges. v. 1I./VI. 70.

Wer als Bewohner der deutschen Hauptstadt in der ver­flossenen Reichstagssession einen Freund oder Verwandten aus der Provinz auf die Tribüne des Reichstags zu geleiten hatte, wird regelmäßig die Erfahrung gemacht haben, daß die erste Frage des Fremdlings sich nach dem Reichskanzler richtete und die zweite Erkundigung nach den sozialdemokratischen Abgeord­neten. So seltsam die Zusammenstellung erscheint, so mag es doch unbewußt der gleiche Gedanke gewesen sein, welcher sie zu diktiren pflegte. Unwillkürlich lenkt sich das Auge jedes guten Patrioten, der zum ersten Male in das Haus tritt, welches als das stolzeste Symbol der deutschen Einheit gelten darf, auf den Gründer und die Todfeinde des deutschen Reichs. Indessen mefft ließ sich diese gerechte und natürliche Wiß- begierde nicht befriedigen. Nur an wenigen Sitzungstagen füllte die mächtige, aber von schwerem Leiden getroffene Gestalt des Fürsten Bismarck jenen historischen Eckplatz am rechten Flügel des Ministertisches, und wenn der enttäuschte Blick sich zur entgegengesetzten Ecke des Saales wandte, da, wo die aufstei­genden Sitze sich zum äußersten Winkel der linken Seite ver­engen, so sah er besten Falls nur einen müßig lungernden Wachtposten von einem oder zwei Mann, den die zwölfköpfige Fraktion der Weltverbesserer zur Beobachtung der ringsum lagernden Feinde aufgestellt hatte. Selbst nicht einmal für die Berathungen der Gewerbeordnungsreform, bei denen es oft in stark schwankenden Abstimmungen Zoll um Zoll einen breiteren Boden für das moderne Arbeiterrecht zu erobern galt, war die eingefleischte Saumseligkeit der Patentirten Arbeiterfreunde zu überwinden, und die unverzeihliche Abwesenheit einiger ihrer lärmendsten Vorkämpfer verschuldete, daß bei der endgiltigen Beschlußfassung jene strengeren Bestimmungen über die Sonn­tagsruhe fielen, welche bei der vorläufigen Abstimmung im Interesse der arbeitenden Klassen durchgesetzt worden waren. Die Beschönigung dieser Pflichtvergessenheit durch den Mangel an Diäten ist übel angebracht, denn von Parteiwegen werden den Abgeordneten Tagegelder in einer Höhe gezahlt, die Män­nern von halbwegs bescheidenen Gewohnheiten den dauernden Aufenthalt selbst auf dem theuren Pflaster der deutschen Haupt­stadt ermöglichen. Was sie hinderte, sich an der gesetzgeberischen Thätigkeit zu betheiligen, war theils die Unlust an dieser ernsten, mühevollen, unscheinbaren Arbeit, theils die Möglichkeit, ver­möge der parlamentarischen Eisenbahnfreikarte auf den blitz­schnellen Flügeln des Dampfes durch die deutschen Lande hin und her zu eilen und überall den Wind ihrer leeren und prahlerischen Verheißungen zu säen, ans dem nunmehr das gemeinsame Vaterland einen so furchtbaren Sturm geerntet hat.

Darnach könnte es fast als eine reine Fata Morgana er­scheinen, wenn hier ein Gesammtbild von der sozialdemokra-. tischen Fraktion im Reichstage entworfen werden soll, das in Wirklichkeit kaum in einer einzigen Sitzung existirt hat. Allein es ist nicht die Absicht, den äußeren oder oratorischen Habitus dieser Männer zu skizziren; was jenen anlangt, so sehen sie eben aus wie andere Menschen auch, ähneln jedenfalls mehr Gevatter Schneider und Handschuhmacher wie Baffermannschen Gestalten, und was diesen anbetrifst, so war, was, wie oder worüber sie sprachen, immer eine und dieselbe Rede, die jeder halbwegs aufmerksame Zeitungsleser schon bis zum Ueber- drnsse kennen gelernt hat. In dieser tödtenden Uniformität spiegelt sich treffend das geistige Leben des sozialistischen Staates, aber es ist unmöglich, den tausendmal abgehaspelten Redewendungen Farbe und Leben einzuhauchen. Dagegen möchte es vielleicht weite Leserkreise interessiren, den parlamentarischen Stab einer revolutionären Wählerarmee, die schon eine halbe Million Stimmen mustert, in seinen einzelnen Gliedern kennen zu lernen. Es ist hohe Zeit, das unheimliche Räthsel der Sozialdemokratie aus der verschwimmenden Wolkenhöhe allge­meiner Betrachtungen aus den festen Boden der realen Wirk­lichkeit zu stellen, ihm furchtlos und stet Auge in Auge zu blicken, das finstere Gewirr der Falten und Runzeln auf seinem greisenhaft-kindischen Antlitze zu entziffern. Für diesen Zweck

ist es fast noch lohnender, die bleibenden Formen der Gestalten in der Partei zu studiren, als das wechselnde Chaos ihrer Ge­danken; da keiner ihrer parlamentarischen Vertreter über einen herrschenden Willen oder eine ungewöhnliche Intelligenz ver­fügt, sondern sie alle das geistige Mittelmaß entweder eben nur erreichen oder gar tief unter demselben bleiben, so liegt der Schluß nahe, daß ihr Sein und Wesen in besonders typischer Form die verschiedenen Strömungen krystallisirt, die sich zu dem reißenden Malstrome der kommunistischen Agitation vereinigt haben, und in der That wird diese Voraussetzung durch eine nähere Prüfung so gut wie durchweg bestätigt.

Senior des Fähnleins ist der Hofbaurath Demmler; er ist 1804 zu Güstrow in Mecklenburg-Schwerin geboren. Künst­lerische Anlagen von ursprünglichem Gehalte befähigten ihn schon mit fünfzehn Jahren, die Bau- und Kunstakademie, daneben auch die Universität in Berlin zu besuchen; mit neunzehn Jahren trat er in den Staatsdienst seiner engeren Heimat, in welchem er fast drei Jahrzehnte hindurch eine höchst ehrenvolle und weitverzweigte Thätigkeit entfaltet hat, von 1837 ab als oberster Leiter des Bauwesens im Großherzogthume, dem sämmtliche Hof-, Militär-, Marstalls-, Gestüts- und sonstige Staatsbauten bestallungsgemäß übertragen waren. Er hat das Residenzschloß in Schwerin gebaut, das Theater, den Marstall, das Zeughaus, meist berühmte Werke der Architektur; sein Name ist bleibend eingetragen in das goldene Buch der Kunst. Und ein nicht minder ehrenvolles Blatt füllt er in der Geschichte des deutschen Handwerks. Während der ganzen Zeit von Demmlers amtlicher Bauthätigkeit bestanden in Mecklenburg noch sehr strenge Zunftgesetze. Die Meister hatten große Privilegien, die Gesellen nur scheinbare Rechte; sie waren so abhängig, daß sie ohne Genehmigung der Meister keine eigenen Arbeiten über­nehmen oder in Accord ausführen durften. Bei seinen groß­artigen und zahlreichen Unternehmungen durchbrach Demmler diesen Zwang; er vergab die Bauarbeiten direkt an die Arbeiter, nicht an Unternehmer; als 1839 in Veranlassung des Regie­rungswechsels sämmtliche Zunftrollen durch den Großherzog Paul Friedrich neu bestätigt wurden, setzte Demmler durch, daß bei den großherzoglichen Bauten die Freiheit der Arbeit gesetz­lich anerkannt wurde. Um den Arbeitern eine gerechte Ent­schädigung ihrer Leistungen zu sichern, hatte er eine eigenthüm- liche Löhnungsmethode erfunden. In der Regel wurden die Arbeiten an sechs- bis achtköpfige Gruppen zu gegenseitig ver­einbarten Accordpreisen vergeben; die einzelnen Leute erhielten zur Bestreitung ihrer Existenz allwöchentlich einen gewissen Lohn ansgezahlt; bei Ablieferung der Arbeiten wurde dieser bereits bezahlte Lohn von dem Gesammtverdienste in Abzug gebracht, und nun ergab sich der Ueberverdienst jeder Gruppe, welcher sodann von den Arbeitern unter sich nach ihren eigenen Ab­machungen und Berechnungen vertheilt wurde. Die Erfolge dieses Systems waren in jeder Beziehung vortrefflich; materiell kamen sie nicht nur den Arbeitern, sondern auch der Baukasse zu Gute; unter der hoch in die Hunderte reichenden Zahl von Arbeitern der verschiedensten Berufsarten herrschte stetes Ein­vernehmen und ungetrübte Zufriedenheit; dem beaufsichtigenden und leitenden Baupersonale wurden die Geschäfte außerordent­lich erleichtert, und nicht zuletzt wurden Eifer, Energie, Fleiß der Arbeiter so angeregt, daß ihre Leistungen, was Gediegen­heit, Tüchtigkeit und künstlerische Ausführung anbetrifst, die höchst mögliche Vollkommenheit erreichten, wovon heute noch die Bildhauer-, Steinmetz-, besonders die in reichem Re­naissancestile ausgeführten Tischlerarbeiten im Schlosse zu Schwerin rühmlichstes Zeugniß ablegen. Diese ganze Wirksam­keit Demmlers war einer der allerersten Versuche auf deutschem Boden, die Arbeiter direkt am. Ertrage der Produktion zu be­theiligen, sie ist heute noch eine der glücklichsten Lösungen des schwierigen Problems der Gewinnbetheiligung, welche überhaupt erreicht sind, und sie hat einen dauernden Platz in der Ge­schichte der deutschen Volkswirthschaft errungen.

An der Schwelle des Greisenalters mündete dies arbeits-