Issue 
(1878) 40
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niemals hat er einen eigenen Gedanken gehabt; die paar Bro­schüren, welche seinen Namen tragen, sind nur populäre Aus­züge aus dem großen Werke von Marx. Aber gerade so wie er ist, ohne den Ehrgeiz der Originalität, dagegen ausgerüstet mit allen geistigen Hilfsmitteln moderner Bildung, ist er vor anderen geeignet, die verhegelte Weisheit der communistischen Denker in die landläufige Sprache des Lebens zu übersetzen. Hierin hat er viel geleistet, und wenn Lassalle noch selbst die Ergebnisse seiner gelehrten Forschungen in agitatorische Formen gießen konnte, so ist es wesentlich Liebknechts Werk, wenn ein schwacher Abglanz der Ideen, die Engels und Marx wissen­schaftlich gewonnen haben, in die Köpfe der Agitatoren fällt, welche lärmend aus Markt und Gassen ihre Weisheit seilbieten. Nicht ohne großes Geschick hat Liebknecht die Grund- und Hauptsätze des communistischen Credos dialektisch in einander verankert und verkettet; aus den Rededuellen in öffentlichen Versammlungen ist ja hinreichend bekannt, wie oft gebildete Leute, die in diesem Irrgarten von Fußangeln und Wolfs­gruben nicht genauen Bescheid wissen, vor ganz unwissenden Agitatoren die Flagge streichen müssen. Aber noch in einer andern Beziehung hat Liebknecht der deutschen Sozialdemokratie den Stempel seines Wesens aufgedrückt. Er hat ihr die eigent­liche demagogische Methode geliefert, jene Art und Weise des Kampfes, welche unendlich viel mehr zur Entsittlichung und Verwilderung der Massen beigetragen hat, wie die Propaganda für die theoretischen Ziele. Das Verdächtigen und Verleumden politischer Gegner, das Fälschen und Unterdrücken historischer Thatsachen, das gewerbsmäßige Ausrotten des Glaubens an die sittlichen Grundlagen von Gesellschaft und Staat, nament­lich das grundsätzliche Schmähen des Vaterlandes, seiner höch­sten Güter und seiner theuersten Traditionen, alles dies ist erst von Liebknecht in ein weitverzweigtes System gebracht worden. Weder Schweitzer noch gar Lassalle haben nur entfernt ähnliche Sünden auf dem Gewissen; bei andern Führern der Partei, wie wild sie sich geberden, regt sich doch wenigstens gelegent­lich einmal das Gefühl der Gerechtigkeit und des Patriotis­mus; niemals bei Liebknecht. Theilweise mag er durch den guten Glauben entschuldigt werden, in welchem er handelt; die kindische Angst, welche die großen Verschwörer an der Themse selbst vor Verschwörungen hegen,- wurzelt auch ihm in Fleisch und Blut. Wohin er tritt, riecht er Spione und wittert er Verräther; diese Leute haben völlig verlernt, an einfache natür­liche Motive in menschlichen Handlungen zu glauben. Aber furchtbar bleibt trotzdem die Verantwortlichkeit, welche auf Lieb­knecht lastet, und sie wird nur noch in ein helleres Licht ge­rückt durch die persönlichen Tugenden, welche ihn schmücken. Hier steht er rein und unantastbar da. Welches immer die Idee sei, die sein Leben beherrscht, er hat ihr all sein Leb­tag ganz und voll gehört; kein irdischer Vortheil hat ihn auch nur um Haaresbreite von dem Wege verlocken können, den er beim ersten Erwachen seines politischen Denkens betrat, um ihn niemals wieder zu verlassen. Auch soll Liebknecht, wie man es häufig bei diesen fanatischen Naturen findet, im privaten Leben große Tugenden entfalten; leider findet dieses Muster unter einer erheblichen Zahl seiner Mitdemagogen lange nicht so viel nacheifernde Begeisterung, wie seine öffentlichen Fehler. Liebknecht steht im zweiundfünfzigsten Lebensjahre; trotz einer erdrückenden Arbeitslast erscheint seine Kraft noch frisch und ungebrochen.

Um volle zwanzig Jahre jünger ist Johann Most, in seiner Art gleichfalls ohne Gleichen in der Partei. Jene un­selige Halbbildung, welche als klirrende Kette am Fuße jedes modernen Kulturvolkes schleppt, aber auf die philosophischen Anlagen, die Systemsucht der Deutschen verhängnißvoller wirkt, als irgendwo anders, ist zwar ein mehr oder minder inte- grirender Theil im Wesen fast aller sozialdemokratischen Führer, aber nirgends ist sie zu so trostlos typischem Ausdrucke ge­diehen, wie in diesem Buchbindergesellen. Er ist der Fanatiker der Unwissenheit; er redet und schreibt mit superlativster Un­fehlbarkeit über alle Fragen, welche je den menschlichen Geist beschäftigt haben, äo oraaibas rabem ot gailmsclara aliio; in allen schwierigen Disziplinen, welche sich nicht ohne den Ge­

brauch von Fremdwörtern handhaben lassen, bedarf er höch­stens eines populären Leitfadens, um siegenden Laufes die steilsten Höhen der Wissenschaft zu erklimmen. Ervernichtet" heute Carlyle und morgen Mommsen; er schilt St. Simon einen wunderlichen Kauz, Fourier einen Bruder Miericke, Proudhon einen konfusen Quacksalber dritten Ranges; selbst Marx ist nicht sicher vor seinem kritischen Messer. Bekannt ist sein blasphemisches Treiben in dem vergangenen Winter, das selbst den ernsteren Geistern unter seinen Genossen Ekel und Verachtung eingeflößt hat, wie ein eben in derZukunft" erschienener Protest bekundet. Unter seinen zahlreichen Schrif­ten sind besonders erwähnenswerth dieBastille am Plötzen­see" und dieLösung der sozialen Frage"; wer sie liest und erwägt, welche Rolle dieser Mann in unserem öffentlichen Leben spielen kann, wird in tiefster Seele erschrecken vor den Schlamm­wellen des geistesvdesten Banansenthnms, welche den Adel und die Zucht deutscher Bildung völlig zu ersticken drohen. Es ist nicht die Unwissenheit an sich, welche grinsend aus leeren Augenhöhlen den Beschauer mit Entsetzen und Grauen schlägt, sondern die schäm- und scheulose Dreistigkeit, in welcher die Unwissenheit sich als welterlösendes Prinzip proklamirt. Man würde sehr irren, wenn man in den Reden und Schriften dieses Genius auch nur ein blasses Fünkchen jener originellen Ver­kehrtheit suchte, mit welcher beispielsweise einst der Schrift­setzer Proudhon die offiziellen Größen der Wissenschaft haran- guirte; es sind vielmehr nur dünne und dürftige Phrasen­schauer, gewürzt mit Kraftausdrücken rüden Kalibers, ohne eine Spur eigenen, noch so verkehrten Denkens. Einen namhaften Theil seines jungen Lebens, mehr als ein halbes Jahrzehnt, hat Most in österreichischen, preußischen, sächsischen Gefängnissen zugebracht;hier konnte er studiren, der Ortswechsel erhielt ihn geistig frisch," schreibt er selbst in einer autobiographischen Notiz. Schon im Wiener Hochverrathsprozesse von 1870 wurde er zu drei Jahren schweren Kerkers, verschärft durch je einen Fasttag in jedem Monate, verurtheilt; Anfangs 1871 befreite ihn die Amnestie, welche das neuernannte Kabinet Hohenwart erließ, wohl auf Initiative von Schäffle, der in diesem Mini­sterium bekanntlich dem Handelsressort Vorstand. Heute sind Most und Schäffle gemeinsam Mitarbeiter an derNeuen Gesell­schaft", einem der beiden wissenschaftlichen Organe der deut­schen Sozialdemokratie; das Weltverbessererthum führt zu selt­samen Schlafgesellen.

Der Rest des sozialdemokratischen Fähnleins im Reichstage läßt sich besser gruppenweise überblicken. Eine erste dreiköpfige Gruppe besteht aus dem Lohgerber Hasen clever, dem Tuchmacher Motteler, dem Kaufmann Bracke; es sind Kleinbürger, bei denen die Halbbildung gleichfalls ein wesentlicher Faktor ihrer sozialistischen Querköpfigkeiten ist, obgleich sie in ihnen durch einen tüchtigen Zuschuß hausbackenen und nüchternen Ver­standes gemildert wird. Hasenclever und Motteler haben ihre gewerbliche Thätigkeit anfgegeben, um sich ganz dem Dienste der Partei zu widmen; Bracke ist heute noch Mitinhaber einer Getreidehandlung, sowie Besitzer einer Buchdruckerei und Buch­handlung in Braunschweig; in letzterer Beziehung ist er ein lebendiger Protest gegen den sozialistischen Staat, ein merk­würdiges Beispiel für die Unausrottbarkeit des privaten Er­werbssinns. Als Buchdrucker und Buchhändler denkt er gar nicht daran, die von ihm besessenen Arbeitswerkzeuge auch nur in dem Umfange zu veräußern, als sie das Getriebe des mikro­kosmischen Zukunftsstaates, den die kommunistische Parteiorga­nisation darstellen muß und will, sehr empfindlich stören. Er druckt, verlegt, vertreibt sozialdemokratische Broschüren, Bücher, Kalender und macht dadurch den einschlägigen Parteiunter­nehmungen eine drückende Konkurrenz. Am unbedeutendsten in dieser Gruppe ist Hasenclever, eine brave,gutmüthige,harm­lose Seele, die sich in der Konfliktzeit das Räsonniren an­gewöhnt hat und von der süßen Gewohnheit nimmer lassen mag und wird. Als er im Präsidium des allgemeinen deut­schen Arbeitervereins der Nachfolger Lassalles und Schweitzers wurde, war er dieser schwierigen Stellung in keiner Weise ge­wachsen; nicht seinem Übeln Willen, aber seiner völligen Un­fähigkeit ist cs namentlich zuzuschreiben, daß jene immerhin er-