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träglichere, wenigstens noch mit einigen Wurzeln im vaterländischen Boden haftende Richtung der deutschen Sozialdemokratie so schnell und spurlos im Triebsande des antinationalen Communismus unterging. Veröffentlicht hat er nur einige schaurige Makulatur in Gedichten und Novellen. Motteler hat früher lebhafte Thätigkeit auf den: Gebiete des Genossenschaftswesens entwickelt, Namentlich in Crimmitschau; seinen dortigen Beziehungen hat er wohl vornehmlich seine Wahl in den Reichstag zu danken; sonst ist nur von ihm zu sagen, daß er nichts geschrieben hat, und daß seine meist glatte und höfliche Form der Rede häufig an der seichten Leere des Inhalts strandet. Weit höher als diese beiden steht Bracke, ein Mann, der einen felsenfesten Glauben an und eine schwärmerische Begeisterung für die sozialistische Zukunft mit sachlicher Ruhe und einem tüchtigen Reste patriotischer Gesinnung zu verbinden weiß. Sehr achtungswerth war seine Haltung als Mitglied der leitenden Parteibehörde im Juli 1870. Er gerietst in heftige Konflikte mit Bebel und Liebknecht, die im norddeutschen Reichstage sich der Abstimmung über die Bewilligung der französischen Kriegsanleihe enthalten hatten und drang unablässig auf eine nationale Haltung der Partei, welche er durch ein von patriotischer Hingebung durchwehtes Manifest zu befördern suchte. Erst als in Paris die Republik proklamirt war und ein Machtwort aus London kam, ließ sich Bracke in den wüthen- den Strudel gegen das „Treiben der Narren und Schurken", wie Marx öffentlich den patriotischen Aufschwung des großen Jahres nannte, willenlos fortreißen; er büßte durch sofortige Jnternirung in Lötzen und eine Anklage auf Hochverrats die später durch Freisprechung erledigt wurde. Im Herzogthum Braunschweig ist Bracke der eigentliche Führer der Partei und nimmt unter seinen Genossen eine etwas vornehmere Sonderstellung ein; einige der beliebtesten und verbreitetsten, ob zwar wenig originellen Agitationsschriften find aus seiner Feder geflossen.
Ein zweite Gruppe besteht aus dem Drechsler Bebel und dem Tabaksarbeiter Fritzsche; sie gehören zu den interessantesten und wichtigsten Gestalten der deutschen Sozialdemokratie; insofern dieselbe nicht blos ein aus allen bösen Säften des nationalen Lebens zusammengeronnener Sumpf, sondern eine wirkliche Arbeiterbewegung mit ernsthaftemund geschichtlichem Hintergründe ist, sind sie ihre klassischen Repräsentanten. Beide sind in den Tiefen des Proletariats geboren, haben sich aus eigener Kraft und Tüchtigkeit emporgearbeitet, ein respektables Maß von Wissen erworben und eine verhältnißmäßige Höhe des Wohlstandes erreicht. Sie haben es bis zu kleinen Fabrikanten gebracht und sind ihrerseits lebende Zeugen geworden wider den Hauptsatz ihrer Lehre, das „eherne Lohngesetz", nach welchem die Arbeiter ewig in die unentrinnbare Hölle des eben zureichenden Lebensunterhaltes gebannt sind. Bebels Wesen ist unter dem Einflüsse Liebknechts einigermaßen verwildert; in seinen neuesten Schriften spricht er oft mit widerwärtiger Anmaßung über Dinge, von denen er nichts versteht, beschimpft er Männer wie Luther und Melanchthon, von deren weltgeschichtlicher Bedeutung er nicht einmal eine blasse Ahnung hat. Aber dennoch athmen diese literarischen Erzeugnisse eine so eigenthümliche Frische, tragen sie so viUe redende Spuren nach- denksamen Sinns, klaren und tüchtigen Verstandes, daß sie noch thurmhoch über den Elukubrationen Mosts und ähnlicher Geister erhaben sind. Fritzsche gehörte schon zu den Arbeitern, welche Lassalle zu seiner Agitation veranlaßen; als nach dem
Tode des großen Agitators allgemeine Verwirrung in den Reihen seiner Anhänger einriß, rettete sich Fritzsche auf festes Land, indem er zum höchsten Aerger der politischen Abenteurer, welche um die Erbschaft Lassalles stritten, einen Verein der Tabaksarbeiter zur Vertretung rein gewerblicher Interessen gründete, nächst dem Buchdruckerverbands den ersten, erfolgreichsten und größten Gewerkverein der deutschen Industrie. Seitdem ist Fritzsche der hervorragendste Vertreter der sozialdemokratischen Elemente, welche mehr die Wege der englischen Gewerkvereine, als des englischen Chartismus, das heißt mehr die Wege der sozialen Reform, als der sozialen Revolution zu wandeln geneigt sind. Seine öffentliche Thätigkeit hat überwiegend seinem Vereine gehört, er ist Redakteur des Vereinsorgans und hat sonst nur vor Jahren ein kleines Schriftchen über die Lehre von Lassalle herausgegeben. Nicht ein capri- ciöser Künstler wie Demmler, nicht ein wüthender Fanatiker wie Liebknecht, nicht ein unwissender Polterer wie Most, aber Arbeiter, wie Bebel und Fritzsche sind das große und tiefe Räthsel der Epoche, dessen dunkle Runen in die innersten Herzkammern der europäischen Kultur geätzt sind.
Die letzten drei der sozialdemokratischen Abgeordneten stehen mehr im Hintergründe. Der Sattler Auer gehört zu jenen maßvolleren und verständigeren Mitgliedern der Partei, die wie Bebel und Fritzsche bei allem lauten Bekennen einer utopistischen Weltschwärmerei doch auch praktische Reformvorschläge zur Hebung der arbeitenden Klassen radikal, aber immer noch sachlich zu diskutiren die Fähigkeit und Neigung haben. Blos ist von allen der jüngste, er zählt noch nicht dreißig Jahre und ist einer jener „Intelligenzen" zweifelhaften Genres, die eine akademische Bildung genossen haben und unlustig oder- untüchtig zu ernsthafter Thätigkeit sich auf dem Piedestal eines populären Demagogenthnms eine öffentliche Position zu machen suchen. Einige oberflächliche Broschüren, welche Blos kompilirt hat, geben einen geringen Begriff von seinen Fähigkeiten. Beiläufig Pflegen diese „Intelligenzen" nichts weniger als eine angenehme und angesehene Stellung in der Partei zu haben, von dem rohen Bildnngshasse der schlechten Elemente, der „schwieligen Fäuste", werden sie argwöhnisch und mißtrauisch betrachtet, während die tüchtigeren Leute ihnen keine besondere Achtung zu spenden pflegen; ist es psychologisch ja auch durchaus erklärlich, daß intelligente Arbeiter, die sich aus den unteren Schichten der Nation emporzuringen streben, wenig Sympathie mit den sinkenden Kräften der höheren Klassen haben. Endlich Kapell ist ein Agitator jener gewöhnlichsten und niedrigsten Gattung, die einen noch viel aussichtsloseren und heftigeren Kampf wie mit der „Bour- geosie", mit den Geheimnissen der deutschen Grammatik zu kämpfen Pflegt. Ihre geistige Habe, ihr politisches Wehr und Waffen sind einzig unverdaute Phrasen aus den Broschüren Lassalles und Liebknechts.
Beim Abschlüsse dieser Skizze wird die Auflösung des Reichstags proklamirt; so erscheint die Arbeit vielleicht veraltet und verfallen den dunkeln Tiefen des Papierkorbs. Wenn sie vor diesem herben Schicksale gerettet ist, so verdankt sie es der Hoffnung, daß das Bild, welches sie entwirft, vielleicht in dem geneigten Leser die Ansicht befestigt, daß das deutsche Parlament an Charakter und Geist, an Arbeitskraft und Würde nur gewinnen kann, wenn keiner dieser zwölf Apostel des gewaltsamen Umsturzes wiederkehrt, in ihm den festen Entschluß stärkt, an seinem Theile beizutragen, daß dies schöne Resultat erreicht werde.
Wor dem Sturm.
Historischer Roman von Theodor Fontane.
Nachdruck verboten. Ges. v. ii./VI. 7<>.
(Fortsetzung.)
Es war ein wundervoller Tag, frisch und doch nicht kalt; am Horizont standen dunkle Streifen von Tannenwald, und dazwischen zeigten sich die Spitzthürme verschiedener Ortschaften und Dörfer. Einige davon wurden Passirt, und Krist, der hier allerlei Freundschaft hatte, sprach ein Wort oder hielt auch wohl an, um seine Pfeife wieder in Brand zu bringen. Lewin aber genoß der wundervollen Luft, und fühlte sich mit jedem Athem- zuge mehr und mehr genesen; seine Nerven belebten sich wie-
> der, und der Druck schwand, der bis dahin auf ihm gelegen hatte. Immer freundlicher wurden die Bilder, er gedachte Seidentopfs, und es war ihm als zöge er dem Frieden entgegen.
So vergingen die Stunden; schellenläutend trabten die Pferde dahin, und schon neigte sich die Sonne zum Untergang.
Vier Uhr war vorüber, als sie vor dem Dolgeliner Kruge hielten. Gerade gegenüber war die Pfarre. Lewin stieg ab,