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stellung des Sevennenkrieges, an welchen übrigens noch reiche Erinnerungen im Volke leben. Der treue alte Kellner des Gasthofs, den man mit seinem Tausnamen Noimimir bll-na^ois anzureden pflegte, erzählte mir, daß sein n'will in einem Treffen des Sevennenkrieges nahe am Aigoal gefallen fei. Valleraugue war überdies der Geburtsort eines der frühesten und berühmtesten Prediger der Sevennen, Vivens.
Nachdem am 18 . Oktober 1685 , durch die Greuel der Dragonaden bewogen, sämmtliche Hausväter von Valleraugue und Ardaillers (soweit sie nicht sogleich entflohen waren) ihren evangelischen Glauben abgeschworen hatten — ich habe die Liste der abjuratious im Archiv der Mairie vorgefunden — so war es Vivens, welcher alsbald 1686 diese und andere „Neubekehrte" zur Rückkehr und zu standhaftem Bekenntniß ihres reformirten Glaubens entflammte. Von da an haben diese Ortschaften des oberen Heraultthales — ein Jahrhundert lang bekanntlich unter steter äußerster Gefahr — in Schluchten und Schlupfwinkeln heimlichen Gottesdienst gehalten; heutigen Tages gehört der größte Theil ihrer Einwohner wieder der reformirten Kirche an. Vivens' Ansehen war auch bei den Gegnern so groß, daß Bavilles 1687 sich zu einem Vertrag mit ihm herbeiließ, worin er ihm und 270 andern Reformirten freien Abzug ins Ausland gewährte. Freilich wurde auch dieser Vertrag, wie so viele andere, nach dem Grundsätze, daß man Ketzern nicht Wort zu halten brauche, gebrochen und die Abziehenden feindlich überfallen, doch gelang es Vivens, mit einem Theile derselben nach Holland zu entkommen.
So vergingen einige Tage in angenehmer Ruhe; ich benützte die kühleren Morgen- und Abendstunden zu Spaziergängen. Den einen machte ich in das malerische Thal des Clairon, freute mich der kühngesprengten epheubewachsenen Brücken, die hier und da über die Schlucht des Gießbachs setzen, der Gruppen von Thuja und immergrüner Eiche, der Thonschieferrippen, die immer hoher, je mehr man dem Aigoal sich nähert, rechts und links sich zwischen dem Grün der Terrassen emporthürmen. Ein zweiter Spaziergang führt in das etwas breitere Thal des oberen Herault, das sich nach dem Esperou- passe eine starke Stunde weit hinanzieht. Prachtvoll ist die Modellirung jener Bergschneide, die die beiden Thäler trennt, und die nach Nordwest stets an Höhe wächst. Ein fast senkrechter Absturz von mehreren tausend Fuß — eine Kluft, einem Bergrutsch ähnlich — schließt das Thal ab; über diesem Pre- eipice zeigt sich in schwindelnder Höhe winzig klein das Gehöfte der Seyre raide; wie man dort hinaufkommen könne, bleibt vor der Hand ein Räthsel. — Der anmuthigste Spaziergang aber ist der den Herault abwärts nach dem Fuße des Oriol führende. Der Weg windet sich prächtig um verschiedene Felsenecken, von denen Olivenbäume herabschauen; über Felsenschwellen, die die Kunst vollends zu Wehren umgebildet hat, rauscht der Herault herab und begräbt sich unter einer Brücke in eine tiefe Schlucht; die prächtigsten Kastanienwälder schauen auf ihn nieder.
Der Esperoupaß mit dem Mont Aigoal war in diesen Tagen stets das stille Ziel meiner Sehnsucht. Der Arzt hatte mir den Besuch erlaubt, und zwar um so unbedenklicher, als man bis auf die Paßhöhe fahren kann. Aber schließlich schien das Wetter mir noch einen Streich spielen zu wollen. Die Zeit meines Urlaubs eilte ihrem Ende zu; auf den Montag hatte ich meine Abreise festgesetzt. Den Sonnabend umzog sich der Himmel, Wolken lasteten aus dem Aigoal, das ganze Firmament war ein Grau. Ich verlor den Muth und suchte mich in mein Schicksal zu ergeben. Gegen Abend kam der älteste Sohn meines Vetters, mich zu besuchen. Um sechs Uhr war eine Beerdigung, es interessirte mich, ihr beizuwohnen. Es war das einzige Kind eines Schreinermeisters, das begraben wurde. Still, ohne Geläute, nahte der Zug. Acht dunkelgekleidete Mädchen trugen an Bändern den offenen Sarg, den Deckel trug ein Mann hinterher. Doch nur bei Kinderleichen ist es gewöhnlich, den Sarg offen zu tragen. Dicht hinter dem Sarge ging mein lieber Pastor F. in weißer Halsbinde, ohne Ornat, und in seinen Arm eingehängt ging der weinende Vater des Kindes. So ist es Brauch, daß der Pastor
den Leidtragenden im Arme führt und auf dem schweren Gange tröstende Worte ihm znspricht. Mir war das unendlich rührend. In diesem einzigen Brauche spricht sich eigentlich schon das ganze Verhältniß aus, in welchem der reformirte „pnstour" zu seinem „Ecmpsau" steht. — Hinter drein gingen, in keinen Zug geordnet, aber langsam und anständig die Männer, welche zu dem Leidtragenden in irgend einer Beziehung standen; auch wir mischten uns unter sie und beteten auf dem schlichten Kirchhof das innige freie Gebet mit, worin der Pastor für den Trauernden Kraft der Unterwerfung und Trost der Hoffnung erflehte.
Als ich eine Stunde später dem Pastor auf der Straße begegnete, überraschte er mich nicht wenig durch die Eröffnung, er habe für morgen mir ein Fuhrwerk auf den Esperou bestellt. Ich erschrak förmlich, und erinnerte ihn an die Wolken, die trübe über uns hereinhingen. „O," sagte er, „das kann sich bis morgen früh ändern, der Wind ist nicht schlecht, Sie können morgen den schönsten Tag bekommen." Da kam auch in mich wieder einiger Muth, ich redete mit Monsieur Dupont, dem Besitzer und Lenker des Fuhrwerks, eigentlich einem Spezereikrämer, der wöchentlich dreimal in Geschäften den Esperou befährt, und wir setzten die Abfahrt auf morgen fünf Uhr fest.
Wer verschlief, war Monsieur Dupont. Wir (d. h. mein junger Vetter und ich) mußten ihn erst wecken. Um ein Viertel vor sechs Uhr, nachdem er das zweirädrige offene Wägelchen, vor welchem ein Maulthier in der Gabel lief, noch rasch mit Auberginen und anderen Viktualien beladen hatte, wurden wir flügge. Der Pastor hatte aber recht gehabt. Der Morgen war kalt, der Himmel rein und wolkenlos. Wir rollten das Thal des Herault hinauf; zeitweise stahl sich die aufgegangene Sonne hinter einer und der andern Felsenecke hervor, und dann trat Glut an die Stelle der fast empfindlichen Kühle. Die treffliche Chaussee führt an dem Dorfe Mas Mejan vorüber, das von einem wahren Park prachtvoller Kastanienbäume umgeben ist, dann zu dein Dörfchen Malet, und hier stehen nun die schroffen Felsenwände dicht vor uns. Die Frage: wie da hinauskommen? wiederholt sich. Nun ist aber in der neuesten Zeit ein wahres Meisterwerk von Bergstraße hier erbaut, mit nur vier Procent Steigung. Die Straße wendet sich bei Malet um und führt in der Richtung nach Valleraugue zurück, an dem schroffen Abhang der Luzette sanft empor, anfangs durch den prächtigen Kastanienpark. In steten Krümmungen um die vorspringenden Felsenpfeiler der Luzette herum und durch die dazwischenliegenden Buchten windet sie sich so lange, bis wir den Rauch von Valleraugue wieder in ziemlicher Nähe, aber schon recht hübsch von oben herab sehen. Nun kehrt sie um und setzt sich in gleicher Weise fort, bis wir wieder Malet unter uns — in welcher Tiefe! — erblicken. Das ist aber nur die erste von drei Zickzacklinien. Die zweite ist gebaut und roh beworfen, aber dem Verkehr noch nicht übergeben; wir mußten hier den alten Fahrweg benutzen, wir gingen zu Fuße, indes das leere Fuhrwerk sich mühselig genug die steilen holperigen Höhen hinaus bewegte. Gar malerisch saßen auf einem Felsenvorsprüng ein paar Hirten. Es war heute der Tag, an welchem die Schafherden von der sommerlichen Berghut Heimgetrieben wurden in die Ortschaften. — Wir erreichten nun die dritte höchste Zickzacklinie und mit ihr die Region der Rothbuche. Nochmals führte uns die Straße bis Halbweg Valleraugue zurück und dann wieder vorwärts. Die Blicke in die Tiefe sind hier zuweilen wahrhaft schauerlich. So steil sind die Abstürze, daß mein Blick, obgleich ich hoch ans dem offenen Gefährte saß, über den Rand und die niedrige steinerne Brustwehr der Straße hinweg nicht in die Tiefe des Thales, nur auf die jenseitigen Wände zu dringen vermochte. Man glaubt in den Lüsten zu fahren.
Endlich hält der Wagen. Die Straße führt links in den Paß und zu dem Weiler Esperou. Wir aber schlagen zu Fuß den holperigen Steinweg ein, der rechts gerade über der Quelle des Herault nach der höher gelegenen Wasserscheide der Seyre raide emporführt. Das „Hotel", ein ganz gewöhnliches Bauernhaus, ist verschlossen; die Wirthsleute sind noch in Esperou in der Messe. Wir steigen die kahle gewölbte Anhöhe hinan, die