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Zimmer für das Pianino aus; war es doch dasselbe, bei dessen Klängen er so unvergeßlich schöne Stunden verlebt hatte, und wußte er doch, daß in diesem Raume Gertrud den größten Theil ihrer Zeit zubringen würde, daß sie in der Ausbildung ihres schönen musikalischen Talentes einen Ersatz suchen und finden würde für den herben Verlust, den sie kürzlich erduldet hatte.
Jetzt war alles geordnet; noch einmal schweifte sein Blick über Möbel, Bilder und Spiegel und haftete mit besonderer Innigkeit aus Louise, welche am Tische stehend, Schneeglöckchen aus einem mit nassen Moos gefüllten Kasten nahm und die holden Frühlingskinder zu einem anmuthigen Sträußchen ordnete, das in der alten Lichterfelder Blumenvase auf dem Tische prangen sollte.
„Das ist hübsch, Louise," sagte er liebevoll und schlang seinen Arm um ihren Leib, „Du verstehst es erst den rechten heimischen Zauber über das in meinen Augen schon vollendete Werk zu legen. Wer hätte je Lichterfelde um diese Zeit ohne Schneeglöckchen gesehen? Wie werden sie Gertrud anheimeln!" Und sinnend fuhr er fort: „Erinnerst Du Dich noch der Schneeglöckchen, die wir am ersten Abend in unserer neuen Heimat pflückten? Wir waren so eben von Italien zurückgekehrt, und ich hatte mit Dir alle Räume des Hauses durchwandert, in denen Dn nun als Hausfrau schalten und walten solltest. Der schöne Abend hatte uns dann in das Gärtchen gelockt, und umfangen von dem ganzen Zauber des eigenen Heims durch Dich, deren Liebe ich auf der Reise so tief erkannt hatte, ließ ich Dich zum ersten Mal voll und ganz in meine Seele blicken, theilte ich Dir mit, was ich Monate vorher noch für eine Unmöglichkeit gehalten, daß ich es je einem Menschen vertrauen könnte: mein ganzes Geheimniß, mit all seiner bitteren Wonne, seiner bitteren Qual und —"
Louise hatte die Blumen auf den Tisch fallen lassen. Den Kopf an seine Schulter geschmiegt lauschte sie jedem Wort, das von des Geliebten Lippen floß.
„Und von jenem Augenblicke an," unterbrach sie ihn zärtlich, „wurde ich erst in Wahrheit Dein Weib, denn darin, daß Du es mir sagen konntest, sah ich den sichersten Beweis, daß der Seelenkamps, der meinem liebenden Auge ja nicht verborgen geblieben war, den ich mir aber nicht enträthseln konnte, den bittersten Stachel verloren hatte. — O, Ernst, ich war an jenem Abend so glücklich, so glücklich wie nie zuvor im Leben! Aber Dn weißt es ja, thenrer Mann," fügte sie unter Thränen lächelnd hinzu, „ich brauche es Dir ja eigentlich gar nicht zu sagen, aber ich weiß nicht, wenn ich Dich ansehe, dann kommt es mir immer und immer wieder auf die Lippen: Ernst, wie bin ich doch so namenlos glücklich durch Dich!"
„Und ich durch Dich!" sagte er bewegt. „Aber jetzt müssen wir uns beeilen, denn in einer halben Stunde ist es Zeit, zum Bahnhof zu fahren, um Gertrud und ihre Mutter zu empfangen. Wir müssen ja noch Otto abholen, der vor Begierde brennt, seine neue Pension bei Tante Gertrud zu beziehen. Es ist für mich ein ungemein beruhigender, ja beglückender Gedanke, daß der Knabe, der bis jetzt so ganz die schönen Hoffnungen erfüllt, die wir von ihm gehegt haben, und der mit so großer Liebe an Gertrud hängt, künftig dazu beitragen wird, ihr Leben zu verschönern. Otto hat mir so oft und so beredt davon erzählt, welch ein Entzücken es sei, mit Gertrud zu mnsiziren, daß ich wohl annehmen kann, daß der Genuß auch von der anderen Seite im gleichen Maße empfunden wird. Glaubst Dn nicht auch?"
„Gewiß, Ernst. Weißt Du noch, wie ich vor Freude laut aufjnbelte, als Du zum ersten Mal davon sprachst, Gertrud zu bitten, nach Berlin zu ziehen und Otto zu sich zu nehmen? Ist es doch der einzige wunde Punkt in meinem großen Glück gewesen, daß ich das Bewußtsein nicht los wurde, ich hätte mit Deiner Liebe zu mir eine Schuld ans mich geladen gegen das beste edelste Mädchen von der Welt."
„Und doch kommst Du jedes Mal, wenn Dn bei Gertrud gewesen bist, beruhigter über diesen wunden Punkt zurück; hätte es nicht eher das Gegentheil sein müssen, wenn er wirklich stichhaltig gewesen wäre?"
Louise schüttelte sanft mit dem Kopfe.
„Ernst, ich weiß, dast Du Gertruds Größe immer tiefer verstanden hast als ich; mir wäre es, fürchte ich, unmöglich, so von Herzen glücklich und zufrieden zu sein, wie sie es von Jahr zu Jahr mehr geworden ist, wenn man mir Deine Liebe genommen hätte wie ihr."
„Du vergißt, Louise," erwiderte er mild, „daß man sie ihr nicht nahm, daß sie sie selbst gab, nicht wie ein Ding, welches man heute verschenkt, um morgen ein anderes dafür einzntauschen, sondern mit dem vollen heiligen Bewußtsein, daß man es nie wieder erlangen kann; daß man dagegen aber ein Etwas erringt, das zu hoch und mächtig ist, als daß man es in unserer armseligen Sprache ausdrücken könnte. Nenne es „Bewußtsein treuer Pflichterfüllung", nenne es „Glückseligkeit in dem Glück anderer", es bezeichnet doch nicht ganz das Gefühl, welches Gertrud in allen diesen Jahren Kraft gegeben hat, das sie zum Sonnenschein, zum belebenden, herzstärkenden Sonnenschein macht für alle, die in ihre Nähe kommen. Ich kenne nur ein Wort, das richtig ihre Gemüthsstimmung bezeichnet, das schöne Wort unseres Heilandes:
„Den Frieden, den die Welt nicht geben kann!"
Ire Wissenschaft und die lebenden Miere?)
Von Dr. Julius Stinde.
Nachdruck verboten. Ges. v. ll./VI. 70.
Im Jahre 1876 wurde vom englischen Parlament ein Gesetz erlassen, das geeigneterschien, der wissenschaftlichen Forschung eine Einschränkung aufzuerlegen, die, im Widerspruch mit der ganzen Richtung der heutigen Zeit, das Ansehen, dessen sich die „königlich" genannte Naturwissenschaft beim Publikum erfreut, gewaltig zu schädigen drohte. Und doch war es dasselbe Publikum, welches ans Grund des bereits Geleisteten von der Naturwissenschaft die größten Segnungen praktischer und erkenntnißtheore- tischer Art erwartet, dessen Drängen das Parlament nachgab, indem es das erwähnte Gesetz proklamirte. Während sonst im allgemeinen nur die von den Forschern erlangten Resultate für die öffentliche Mittheilung passend erachtet waren, drangen nach und nach die Methoden der Forschung in leicht verständlicher Form unter das Volk, und von diesen war es eine, die bei ihrem Bekanntwerden einen lauten Schrei des Entsetzens hervorrief — die Methode der anatomisch-physiologischen Untersuchungen an lebenden Thieren, welche der Fachmann mit dem Namen der Bivisection belegt hat. Die öffentliche Meinung bemächtigte sich dieses unheimlichen Gegenstandes und
ruhte nicht eher, als bis es eine gesetzliche, wenigstens theil- weise Einschränkung der Bivisection erlangt hatte. Auch in Italien wurden Kundgebungen gegen die Bivisection laut, ohne daß jedoch, soweit mir bekannt geworden, die Regierung sich der Demonstration annahm.
Man fragt unwillkürlich, mit welchem Recht das Publikum es versucht, den Forschern die Ausübung der Bivisection verbieten zu wollen, wie es dazu kommt, ein Veto gegen wissenschaftliche Methoden einzulegen, sobald dieselben im Widerspruche mit der Humanität zu stehen scheinen, allein da in der Jetztzeit das Publikum der Vertraute des Gelehrten geworden, der bewundernde Freund des Entdeckers, die vielköpfige Instanz, der die neuesten Probleme und Streitfragen von den Forschern selbst zur Begutachtung unterbreitet werden, so ist die Antwort auf diese Frage nicht schwer. Es behauptet seinen Platz als Vertranter des Forschers auch dann, wenn es nicht in gewohnter Weise Gelegenheit findet Lob zu spenden, sondern sich veranlaßt fühlt, sich nicht mit allem einverstanden zu erklären, was in den Laboratorien vorgeht.
*) Wir machen unsere Leser auf den vorstehenden Artikel, der eine zur Zeit sehr dringende Frage behandelt, noch ganz besonders aufmerksam. D. R.