Heft 
(1878) 46
Seite
729
Einzelbild herunterladen

729

Das Hnmanitätsgesühl sträubte sich gegen jenen Theil der Forschung, der das Wissen durch die Zergliederung lebender Geschöpfe zu bereichern sucht, und stellte darum die Frage, ob die an den Thieren in physiologischen Laboratorien verübten Grausamkeiten die Erkenntniß in so hohem Maße förderten und namentlich der praktischen Heilkunde so bedeutsames Material zusührten, daß der erreichte Zweck die Mittel entschuldigen könne. Die von den Vertheidigern der Vivisection dargelegten Gründe für die unbeschränkte Ausübung derselben fielen jedoch derart schwach aus, daß das englische Parlament sich genöthigt sah, der öffentlichen Meinung insofern Rechnung zu tragen, als es die physiolo­gischen Laboratorien einer gewissen Kon- trole unterwarf und die Konzession zur Anstellung von Expe­rimenten an lebenden Thieren von man­cherlei erschwerenden Bedingungen abhän­gig machte.

Obgleich nun die Annahme nahe liegt, daß die Beobachtung der zuckenden Or­gane eines lebenden Thieres, die Unter­suchungen künstlicher Veränderungen in dem Organismus ei­nes zerstörenden Be­dingungen unterwor­fenen Geschöpfes doch im Stande sein müß­ten, die Erscheinun­gen des Lebens dem Verständniß näher zu bringen, so ver­hält sich die Sache in Wirklichkeit doch anders.

Nach der Ansicht der Mehrzahl der heutigen Physiologen ist das Leben ein Produkt mechanisch­chemischer Prozesse, und um auf die Frage:was ist Le­ben, was ist Seele?" eine genügende Ant­wort zu finden, dient die Untersuchung der Lebewesen selbst.

Man erwartet von diesen Untersuchun­gen eine Antwort, ohne daß sie bisher auch nur andeutungsweise erhalten werden konnte. Denn wenn auch das Komplizirte, Zu­sammengesetzte, Unverstandene so lange in seine Theile zerlegt wird, bis man überall auf weniger Zusammengesetztes und schließlich auf Einfaches kommt, bis zuletzt auf das Molekül selbst, so sind wir nur so klug wie zuvor, denn das Molekül ist nichts Einfaches, sondern wieder ein Komplex von Atomen, in dessen Innerstes kein Auge je zu dringen vermag. Die mechanische Weltanschauung wird auf dem Wege des Experi­mentes daher nie das Räthsel des Lebens lösen, sondern muß sich desfalls auf das Gebiet der Philosophie begeben, die zu ihren Deduktionen keiner Vivisektionen bedarf, und somit ist der Werth der letzteren für die Lösung der intensivsten Fragen durch­aus nicht abzusehen.

Gewaltig und massenhaft häuft sich dagegen das Material der Einzelbeobachtungen, welche ohne Bezug auf die letzten Fragen freilich Details genug bieten, aber der Verbindung unter einander entbehren und nur dem Wissensdurst, nicht aber der Erkenntniß Rechnung tragen. Hierher gehört zur Illustration des Ebengesagten das berüchtigte Experiment Brachets, das er die sxpörienos Ivornls nannte, und das er anstellte, um die Grenzen der Anhänglichkeit eines Hundes an seinen Herrn fest- zustellcn. Zu diesem Zwecke quälte er seinen Hund, so oft er ihn sah, auf alle erdenkliche Weise. Dann zerstörte er die Augen des Hundes, damit er ihn nicht erkennen könnte, und da das nicht ge­nügte, durchbohrte er das Trommelfell in Leiden Ohren und füllte das innere Ohr mit geschmolze­nem Wachs.Dann liebkoste ich das Thier," fährt Brächet in seinem Bericht an die französische Aka­demie fort,und nun, da es mich weder sehen noch hören konnte, zeigte das Thier nicht nur kei­nen Zorn, sondern schien nicht unem­pfindlich für meine Liebkosungen." Die Abhandlung Bra­chets wurde mit ei­nem Preise gekrönt. Daß die Wissenschaft einen kärglicheren Ge­winn aus diesen gräß­lichen Versuchen zog als der Veranstalter derselben, bedarf kei­ner Erläuterung, so viel aber wurde doch ermittelt, daß ein grausam gequälter, verstümmelter Hund nicht beißt, wenn statt der Qualen ihm Liebkosungen geboten werden.

Ein ähnliches Ex­periment, das Bonil- lard anstellte, hatte nicht einmal dieses Resultat aufzuweisen. Ich durchbohrte," sagt Bouillard,die Stirn eines Hundes an zwei Stellen und führte einrothglühen- des Eisen in jede Hemisphäre des Vorderhirns. Das Thier heulte und schrie und legte sich nieder, als wollte es schlafen; aber so oft es sich bewegte, sing es an wieder zu schreien. Wir versuchten es durch Schläge zur Ruhe zu zwingen (!), aber es schrie nur um so lauter, und nach einigen Tagen war ich genöthigt es zu tödten, da sein Geschrei die Nachbarschaft störte. Klare und definitive Schlüsse konnten aus diesem und einem zweiten derartigen Versuche nicht gezogen werden," klagt Herr Bouillard.

Allerdings gehören die eben angeführten Experimente einer älteren Zeit an. Die Fragen, welche sie lösen sollten, sind mehr die der Neugierde als der Wissenschaft. Man wird daher er­warten, daß heute nur dann ein Thier der Vivisection anheim­fiele, wenn die Bestätigung einer auf wissenschaftlichem Denken

ZU >L

Kennst Du ihn?" Gemalt von F. Thöne.