Heft 
(1878) 46
Seite
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beruhenden Vermuthung gewünscht wird. Von der Ansicht aus­gehend, daß durch Experimente das Nervencentrum ermittelt werden könnte, von welchem die Funktion des Schwitzens ab­hängig ist, hat Professor Luchsinger in Zürich unter Assistenz einer Studentin (!) eine lange Reihe von Versuchen gemacht, die wesentlich darin bestanden, daß die Thiere (Katzen) nach totaler oder halbseitiger Durchschneidung des Rückenmarks wieder­holt einer Hitze von 70" 0. im Brütofen ausgesetzt wurden. Aus dem Schwitzen bald der rechten, bald der linken Pfote wurden dann Schlüsse gezogen, deren verwertbarer Theil sich darauf reduzirt, daß bei dem Phänomen des Schwitzens der cerebrale Nerveneinfluß nicht geleugnet werden könnte. Hat die Wissenschaft durch dieses magere Ergebniß gewonnen? Wir müssen mitNein" antworten, denn positive Anhaltspunkte sind aus den Experimenten mit den schändlich gemarterten Katzen für die Erkenntniß nicht gefunden worden. Ebenso wenig vermag die Heilkunde auch nur die Andeutung eines Nutzens aus den­selben zu ziehen.

Die Anführung dieses einen Beispieles und die aus dem­selben gezogenen Schlüsse für seinen wissenschaftlichen und prak­tischen Werth könnten uns leicht in den Verdacht einer auf Vorurtheilen beruhenden Einseitigkeit bringen, sobald wir den Einzelsall und seine Konsequenzen auf die Bivisection im allge­meinen ausdehnen und behaupten, daß die Dienste, welche sie der Wissenschaft und der Praxis leistet, wenn sie nicht spezielle therapeutische Ziele verfolgt, in keinem vernünftigen Verhält­nisse zu den Qualen stehen, welche sie über die Versuchstiere verhängt. Da es an Raum fehlt, hier die Zahl der Beispiele zu vermehren, um den Vorwurf der Einseitigkeit zu ent­kräften, bleibt mir nichts übrig, als auf die Fachzeitschrif­ten hinzuweisen, die mehr als genügendes Material liefern, das zur Bestätigung der eben ausgesprochenen Ansicht dient, wie ich ebenfalls das bei Barth in Leipzig von einem gewiegten Fachmanne edirte Buch:Die Bivisection und ihr wissenschaft­licher Werth" allen für dies Thema sich Jnteressirenden in gleicher Hinsicht dringend empfehle. Nur einen Fall will ich an dieser Stelle noch der Besprechung unterziehen, weil derselbe als eine glänzende Entdeckung durch Versuche an lebenden Thieren auch durch die Tageszeitungen ging, und somit Pro­paganda für die Bivisection zu machen suchte. Diese Entdeckung besteht darin, daß es gelingt, Meerschweine durch bloßes Klo­pfen auf den Schädel epileptisch zu machen.

Da das Gegentheil von Klopfen Nichtklopfen ist, wurde aus diesen Versuchen die Mahnung für die Schullehrer abge­leitet, den Kindern keine Ohrfeigen zu verabreichen. So vor­trefflich der Rath auch ist, ebenso bekannt war schon längst, daß Erschütterungen und Verletzungen des Schädels zu Kräm­pfen und epileptischen Zuständen Veranlassung geben können, und lange vor diesen Versuchen mit den Thieren haben Päda­gogen die Strafe des Ohrfeigens für gefährlich und unzulässig erklärt. Somit schrumpft diese Entdeckung auch noch zur Be­stätigung von alten und bekannten Erfahrungen zusammen. Abgesehen davon, daß das Wesen der Epilepsie durch die Miß­handlung der Meerschweine ebenso unklar geblieben ist wie vorher.

Setzen wir aber den Fall, daß es gelänge, auf dem Wege der Bivisection sicher festzustellen, welche Nervencentra die Funk­tionen der einzelnen Organe beeinflussen, und welche Ver­änderungen derselben als Krankheitsursachen auftreten können, so fragt es sich immer noch, ob es gelingen wird, die be­treffenden Nervenpartien derart zu behandeln, daß sie im Falle der Störung zur normalen Thätigkeit zurückkehren. Sollte dies möglich fein, so würde die Bivisection der leidenden Menschheit die größten Dienste leisten können. Bis jetzt haben die gewaltsamen Eingriffe in den Thierkörper, als da sind Durch­schneidung von Nerven, Zerstörungen des Gehirns, elektrische Reizungen, Entziehung der Nahrung, Erhöhung oder Ernied­rigung der Temperatur, Eintauchen einzelner Glieder in heißes Wasser u. s. w., wohl Krankheitserscheinungen hervorgerufen, aber genau betrachtet haben sie nur gezeigt, daß wenn der be­sonnene Gebrauch, den der Arzt, gestützt auf Erfahrungen am Krankenbett, von denselben Methoden macht, übertrieben wird, das Individuum zu Grunde geht. Die Anwendung der Elek­

trizität, der Diät, der warmen und kalten Bäder, warmer Um­schläge u. s. w. ergibt sich dem Arzte ohne Bivisection, und wenn die Therapie in der Behandlung von Diabetes (Zucker­harnruhr), Herzleiden, Gicht, Phtisis (Lungenkrankheit), Krebs und Cholera bis jetzt keinen Bortheil aus den Vivisectionen gezogen hat, so dürfte diese Thatsache schon genügen, um die Bedeutung, welche der Bivisection von einzelnen Seiten für die Heilkunde zugesprochen wird, auf ein eben so geringes Maß zu reduziren, wie ihren angeblich großen Werth für die Wissen­schaft, für die Erkenntniß.

Daß die Chirurgie der Bivisection nur in einzelnen Fällen zu Dank verpflichtet sein kann, geht aus der Verschiedenheit zwischen dem Thier- und dem Menschenkörper hervor, und wenn sie dem Chirurgen Vortheile brachte, so geschah dies, weil bestimmte Fragen gestellt wurden, und nicht die Möglich­keit der Bestätigung mehr als hypothetischer Vermuthungen die Veranlassung zu den Versuchen war. Außerdem liegt es dem Chirurgen daran, den geschehenen Eingriff in einen Heilungs­prozeß überzuführen, denn sein Zweck ist, eine Heilmethode ausfindig zu machen, sich zu vergewissern, welchen Verlauf eine Verletzung unter diesen oder jenen Verhältnissen nimmt u. a. m. Sind einige Vivisectionen in diesem Sinne gemacht, also durch­aus mit dem Hinblick aus ein bestimmtes therapeutisches Ziel, so ist es nicht nöthig, dieselben zu wiederholen, denn die ein­mal ermittelten Thatsachen finden ihre Verwerthung in der Praxis und werden dem Erfahrungsschätze zugefügt. Es wäre rigoros, solche vereinzelte Fälle der Bivisection nicht billigen zu wollen, denn der große Gewinn, den die leidende Mensch­heit aus denselben zieht, überwiegt das Bedenken gegen die an den Thieren vollzogenen Operationen. Desgleichen fordert die Prüfung von Giften am Thierkörper nur ein kleines Kon­tingent an Versuchsobjekten, wenn auch der Werth solcher Prü­fungen nicht sehr hoch anzuschlagen ist, da der Thierkörper gegen Gifte oft ganz anders reagirt, als der menschliche Orga­nismus, und was Arzeneimittel aubelangt, so ist ein Thier nicht befähigt auszusprechen, welche Empfindungen die Dar­reichung einer Drogue in ihm hervorbringt, es fehlt ihm die Ausdrucksweise für Schwindel, Uebelkeit, Kolik, Kopfschmerz, Augenflimmern, Ohrensausen u. dgl.

Trotzdem sind Giftprüfungen an Thieren und Vivisectionen aller Art mehr denn je an der Tagesordnung, und namentlich die Versuche, welche den Anschein haben, im ausschließlichen Interesse der Wissenschaft angestellt zu werden, die jedoch in unserem Zeitalter, das sich gerne das humane nennt, den Vor­wurf der , Grausamkeit nicht von sich abwälzen können. Vor etwa zwanzig Jahren fing man an, die Geschöpfe mit Aether und Chloroform zu betäuben, um sie am Geschrei zu ver­hindern und wehrlos zu machen, allein in den Experimenten der Nervenphysiologie ist die Anwendung der Betäubung für die Dauer nicht zweckmäßig, da sie die Empfindung herab­mindert und die Reaktionen verwischt. Man bediente sich der Chloroformbetäubung deshalb nur im Anfänge des Versuchs, um das widerstandslose Thier auf den Bivisectionstisch zu schnallen und für die Operation am lebendigen Leibe in eine geeignete Lage zu bringen. Die Neuzeit hat durch die Entdeckung des Curare, des Pfeilgiftes, ein Mittel erlangt, das die willkür­lichen Muskeln lähmt und sie widerstandslos macht, wie einen Kadaver. Um den Erstickungstod zu verhindern, der durch die Lähmung der Athmungsmuskeln eintreten würde, wird die künstliche Athmung eingeleitet, welche darin besteht, daß man mittelst eines Apparates Luft in die Lungen des curarisirten, des gelähmten Thieres bläst, das alsdann der Bivisection unterliegt.

Allein der Zustand während der Curarelähmung ist ein schauerlicher. Claude Bernard theilt über die Vergiftung durch Curare in derUevas ckes äsux mcmckos" folgendes mit:Dieser Tod, der den Menschen so sanft und schmerzlos zu überschleichen scheint, ist, wie sich bei näherer Untersuchung ergibt, ganz im Gegentheil von den furchtbarsten Leiden begleitet, die sich die Phantasie vorzustellen vermag. In den regungslosen Gliedern, hinter jenem ausdruckslosen Blick und unter der Maske des Todes leben Bewußtsein und Empfindung vollständig unver-