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letzt fort. Der Leichnam vor uns hört und sieht alles, was um ihn vorgeht. Er leidet, wenn man ihn drückt oder reizt, kann denken, fühlen und wollen, nur die Mittel der Aenßerung hat er verloren." Das Thier empfindet also auch, während es curarisirt gemartert wird, aber es ist still und ruhig, ein wehrloser Dulder.
Ein Versuch des Herrn Rochefortain, der seiner Arbeit über den „Einfluß der elektrischen Reizung der grauen Hirnsubstanz auf einige Funktionen des organischen Lebens" entnommen ist, zeigt, welchen Martern ein Thier ausgesetzt wird, um die Nervencentra zu finden, welche nach der mechanischen Anschauung des Lebens irgendwo vorhanden sein müssen. Der Hund wird durch Curare gelähmt, die künstliche Athmung eingeleitet, die rechte Hälfte des Gehirns blosgelegt. Dann befestigt man eine metallene Röhre in den Wharlonschen Kanal einer Speicheldrüse, auch schlitzt man den Leib auf, um in den Gallengang und den pankreatischen Kanal ebenfalls ein Röhrchen einzufügen. Der Versuch besteht nun darin, daß man die Tropfen Speichel, Pankreassaft und Galle zählt, die in einem bestimmten Zeitraum den drei Röhren entfließen, einmal mit und einmal ohne elekrische Reizung einer bestimmten Gehirnwindung. Während dieses Experimentes lebte und empfand der Hund, ja er wurde für fernere Versuche aufbewahrt, und doch gelang es nicht, die Centralorgane auszufinden.
Selbstredend darf nicht behauptet werden, daß die Grausamkeit Zweck der Experimentatoren wäre, und es wäre unhaltbar, ihnen dieselben Vorwürfe zu machen, die man gegen die Freunde der Stiergefechte und der Parforcejagden schleuderte, es ist der Wissensdurst, der als Triebfeder angesehen werden muß. Dieser selbe Wissensdurst führte auch dahin, daß, wenn das Curare die Experimente beeinflussen sollte, einfach die Nerven des Stimmorganes durchschnitten werden. Das Thier verstummt nach dem Durchschneiden der Nerven, sein Geschrei belästigt weder den Vivisector noch die Nachbarschaft. Wäre Bonillard auf dieses Mittel verfallen, so hätte er nicht nöthig gehabt, den Hund zu tödten, dessen mit dem Glüheisen verletztes Gehirn dem Thier Tag und Nacht lautes Schmerzens- geheul auspreßte.
Bedenkt man nun, daß die Vivisection mit jedem Tage allgemeiner wird, daß Hunderte der grausamsten Versuche, sowohl heimlich als öffentlich, von Studenten wie von Lehrern tagtäglich ausgeführt werden, daß diese Versuche oft Stunden, ja Tage lang währen, und die Thiere, die den Versuch überleben, nicht getödtet, sondern für neue Versuche aufbewahrt werden, so ergibt sich, daß in der That diese thierischen Märtyrer der modernen Forschung zu den bedauernswerthesten Geschöpfen gehören und die Methode der Vivisection eine Grausamkeit in sich birgt, die unwillkürlich zur Besprechung des ebenso widerwärtigen als unheimlichen Gegenstandes drängt.
Diese war es auch, welche die Agitation ins Leben rief, die dem englischen Parlament die gesetzliche Einschränkung der Vivisection abnöthigte. In erster Linie wurde darauf hingewiesen, daß die Grausamkeit der Vivisection nicht allein mit den Moralgesetzen, sondern auch mit den Staatsgesetzen in Konflikt geriethe, welche die Mißhandlung von Thieren verbieten und bestrafen, und zweitens, daß diese Methode der Forschung in ihren Jüngern den sittlichen Sinn ersticke, ans den die Entwickelung der wahren Civilisation — der Menschlichkeit — zurückzuführen ist. Schon Shakespeare, der große Kenner des Herzens, läßt in „Cymbeline" den Arzt die rechte Antwort finden, welche heute noch Geltung hat. Die Königin spricht zuni Arzte:
„Laß mich prüfen
Die Kräfte deiner Pulver an Geschöpfen,
Die kaum des Hängens Werth sind, nicht an Menschen.
Dann will ihr Wirken ich durch Gegenmittel
Zusammensuchen, bis genau ich alle
Nach Kraft und Wirkung kenne."
„— Nichts gewinnt
Ihr bei der Uebung als ein hartes Herz:
Auch ist der Anblick ihrer Wirkungen
Ansteckend und gefährlich."
entgegnet der würdige Arzt.
Es könnte hierauf der Einwnrf gemacht werden, daß es für die Wissenschaft gleichgültig sei, welchen Standpunkt der Forscher der Sittlichkeit gegenüber einnimmt und darauf hingewiesen werden, daß die exakten Wissenschaften mit der Moral nichts zu thun hätten, allein da die sogenannten exakten Wissenschaften in der Neuzeit den größtmöglichen Einfluß auf das Volk ausüben, so ist dieses Volk auch berechtigt, von den Vertretern derselben, von seinen Lehrern, zu verlangen, daß sie den Forderungen der Moral in jeder Beziehung gerecht werden. Die Vivisectionen zur Befriedigung wissenschaftlicher Neugierde enthalten keine moralischen Momente und sind daher verwerflich mit allen ihren Folgerungen. Zu welch wunderlichen Schlüssen physiologische Beobachtungen führen können, das beweist die aus dem Vorkommen eines phosphorhaltigen Fettes im Gehirn hergeleitete Behauptung, daß weil dieses Fett im Gehirn vorhanden sei, der Phosphor Antheil am Prozesse des Denkens nehmen müßte! Der durchaus jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrende und durch nichts erwiesene Satz: „Ohne Phosphor kein Gedanke" ist zum geflügelten Worte geworden und hat nicht wenig zur Verwilderung der Masse beigetragen, ein Er- gebniß, auf das weder der Erfinder noch die Verbreiter dieser Scheinweisheit, welche für absolute Wahrheit ausgegeben wurde, stolz sein können. Ein einziger eklatanter Fall wie der vorliegende ist geeignet, auch ein befangenes Auge auf den Dogmatismus aufmerksam zu machen, in welchen eine heut zu Tage beliebte Wissenschastelei anszuarten droht, gegeu den jeder denkende Mensch sich zu wenden die Pflicht hat, zumal wenn obendrein der Weg, auf dem das Material zu den Trugschlüssen gewonnen wird, gegen die Gesetze der Moral verstößt.
Das englische Volk war das erste, welches die Einschränkung der Vivisection erreichte und sich der Märtyrer der Forschung annahm, es waren dies Volk aber nicht die Leute allein, denen enragirte Vivisectoren zurufen: „Ihr könnt nicht über dies Thema urtheilen, weil Ihr keine Fachleute seid", sondern hervorragende wissenschaftliche Capacitäten sprachen laut ihren Abscheu gegen diese Methode der Forschung aus. Sir William Fergusson, einer der größten Chirurgen unserer Zeit, bekannte vor kurzem: „Ich mache keine vivisectorischen Experimente mehr. Ich that es früher, aber ich bereue es. Ich that es, weil andere es thaten — und weil ich keine reife Einsicht in die Sache hatte." Darwin sagt von der Vivisection in „Mm Imaest" vom 25 . Februar 1876 : „Sie verdient Verabscheuung und Verdammung."
Es dürfte daher an der Zeit sein, daß auch in Deutschland die Angelegenheit der Vivisection zur Sprache kommt, und viel wäre schon erreicht, wenn der Meinungsaustausch zwischen ihren Gegnern und Anhängern vorläufig bewirkte, daß Vivisectionen nur dann gestattet würden, wenn das Experiment ein bestimmtes therapeutisches Ziel verfolgte, das nachweisbar durch klinische Beobachtungen, pathologische Anatomie und die vielen andern humanen Methoden der Forschung nicht erlangt werden könnte. Wie später ein Gesetz zu formuliren wäre, das würde eine Frage der Zeit sein, denn es bedarf einiger Zeit, ehe alle Punkte, die in Betracht kommen, sestgestellt werden können.
Die hierauf bezüglichen Ermittelungen zu machen, ist daher die Aufgabe aller, die mit der Vivisection nicht einverstanden sind; ein gemeinsames Zusammenwirken Gleichgesinnter, wie solches in England stattfindet, ist unerläßlich, denn dem Einzelnen fällt es schwer, alle Seiten des Gegenstandes zu beleuchten und das ungeheure Material durchzuarbeiten, aus dem die Argumente gegen die Zulässigkeit der Vivisection zu ziehen sind. Aus diesem Grunde kann der vorliegende Artikel keinen Anspruch auf Vollständigkeit machen. Erfüllt er dagegen den Zweck der Anregung, so hat er das gesteckte Ziel erreicht.