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Es ist jetzt genau fünfzehn Jahre her, seit ich ihn kennen lernte. Ich mußte meine Wohnung aufgeben, weil mein Wirth seine Frau ans eine so unmenschliche Weise prügelte, daß ich so roh hätte sein müssen wie er, wenn ich geblieben wäre. Da das nun nicht der Fall war, so machte ich mich an einem der letzten Tage des August auf, um mich nach einer passenden Wohnung umzusehen. Damals waren die Geschäftslokale „Unter den Linden" noch nicht so hoch in die Etagen hinaufgerückt wie jetzt, es gab dort vielmehr noch eine ganze Anzahl Studentenwohnungen. Als ich nun so langsam dem Brandenburger Thor znschlenderte und mich unterdessen nach den weißen Zetteln umsah, welche anzcigten, daß in dem betreffenden Hause eine Wohnung zu vermiethen sei, trat ein Mann ans mich zu und fragte mich, ob ich eine Wohnung suche. „Ich habe ! eine zu vermiethen," sagte er. !
Der Mann hatte ein knochiges Gesicht, in dem die Backen- ^ knochen stark hervortraten, wasserblaue traurige Augen und eine i grau-grüne Hautfarbe, wie sie den Leuten eigen zu sein Pflegt, j welche einen ungesunden Berns haben. Sein hagerer Leib steckte in einem fadenscheinigen grauen Anzuge, und statt der Manschetten trug er ein paar handbreite Streifen ans lackirtem Leder, aber er sah doch leidlich ordentlich aus. !
Ich erklärte mich bereit, die Wohnuxg zu besichtigen, wir gingen in den Hof, stiegen dort zwei Treppen hinan und standen vor einer Thür, die ein winziges Messingplättchen mit dem Namen „Gustav Neumann" trug. Wir gingen dann über einen kleinen Korridor und betraten ein hübsches sehr geräumiges Zimmer. Der Raum hatte die Morgensonne und war sehr sauber, ich fragte also nach dem Preise, gab meinen Thaler Handgeld und wollte davongehen, als mein künftiger Wirth die Thüre öffnete und in den Korridor hineinrief: „Madame Neumann i"
Auf diesen Ruf öffnete sich eine Thür und es erschien eine kleine blonde Frau, die früher gewiß einmal hübsch gewesen war, deren Züge aber jetzt verschwommen und aufgedunsen waren. Sie hatte sich gewiß seit ein paar Tagen nicht gewaschen und ihr Kattunkleid war arg zerschlitzt und zerfetzt. !
„Der Herr hat bei uns gemiethet," sagte Herr Neumann, ! und sah mich dabei so traurig an, als ob er mich wegen dieser Thatsache aufrichtig bedauere.
Frau Nenmann machte eine Art Knix und verzog ihren Mund dann zu einem breiten Grinsen. „Sie werden gewiß mit uns zufrieden sein," sagte sie. „Herr Schneidemühl, der bis jetzt hier wohnte, hat immer gesagt, so gut wie bei Neumanns habe ich noch nie gewohnt, und er war doch ein so feiner Herr — und französisch hat er gesprochen — na ich sage Ihnen — und am Abend ist er immer zu Hause gewesen — und so guten Thee, wie bei Ihnen, Frau Neumaun, habe ich noch nie getrunken, und die Schlackwurst, sagte er, haben Sie so gut und —"
Und so ging es fort, daß der Frau schließlich buchstäblich der Mund schäumte.
Ich muß gestehen, daß ich große Lust hatte, meinen Thaler, die Wohnung und Frau Nenmann aufzugeben, aber das Zimmer gefiel mir. Ich beschränkte mich daher darauf, zu betonen, daß ich in Sachen der Reinlichkeit ein unerträglicher Pedant sei, und ging dann davon.
Am 1. September zog ich ein. Die Dienstleute, welche meinen Umzug vermittelt hatten, waren kaum davongegangen, als Frau Neumann zugleich mit zwei kleinen Mädchen eintrat. Das ältere von diesen, eine etwa fünfzehnjährige überaus schmutzige kleine Blondine, stellte sich vor mir ans und sagte mit monotoner Stimme:
äsux, trois, gnatrs, oing, 8ix, soiot, lullt, nont, ckix."
„Was willst Du, mein Kindchen?" fragte ich verwundert. Die Mutter aber stieß die Kleine mit der Linken gegen die Schulter, und diese wiederholte:
„Uri, ckonx, trois, gnatro, oing, six, 8«pt, butt, nsnk, ckix."
„Was soll das?" fragte ich abermals.
XIV. Jahrgang. 51. ->a.
Nachdruck verboten.
Ges. v. 11./IV. 70.
Frau Neumann warf mir einen glückstrahlenden Blick zu. „Das ist französisch," sagte sie.
„Vortrefflich l" erwiderte ich, „aber warum wird das hergesagt?"
„O!" rief Frau Neumann, „sie kann bis zehn zählen. Sie kann auch „Guten Tag" auf französisch sagen. Sage es, Hulda." „Uou foni-w erklang es unter mir.
Ich wußte jetzt, woran ich war. „Wer hat sie denn das gelehrt?" fragte ich.
„O, Herr Schneidemühl! Herr Schneidemühl sagt, daß man französisch verstehen muß, wenn man zum Theater will." „Soll denn die Kleine zum Theater?"
„Nu natürlich! Und die andere soll zum Circus. Komm her, Amandchen — so, wisch Dir die Nase ab, mein Kind, — so — ist sie nicht hübsch, wird sie nicht im Circus gefallen? Nein, meine Töchter sollen keine Handwerkerfrauen werden und sich plagen und schinden müssen. Nein, sie sollen so hübsche Kleider tragen wie Fräulein Johanson da drüben, und auch mit elegante Herrens ausfahren und Champagner trinken. Fräulein Johanson ist auch bei's Ballet."
„Nun, damit Halles jedenfalls noch gute Weile."
„Nun ja, Zeit hat es noch, aber Handwerkerfrauen sollen meine Töchter nicht werden."
Die Familie Nenmann vermiethete außer meinem noch zwei andere Zimmer an Studenten. Sie selbst bewohnte einen Raum, den man sich kaum klein genug denken kann. In diesem Kämmerlein wohnten und schliefen nicht nur die fünf Menschen — es war noch ein männlicher Säugling da — dort wurde auch das Essen bereitet, und dort qualmte den ganzen Tag über die übelriechende Lampe unter der Schusterkngel. Gelüftet wurde nie.
Schuster Nenmann war der fleißigste Mensch, der mir je vorgekommen ist. Ich glaube nicht, daß der Mann vier Stunden schlief. Ich war ein lustiger Student und kam daher oft sehr spät nach Hause, und ich war zugleich ein fleißiger Student und stand daher immer früh auf, aber Schuster Reumann war stets noch oder schon wach und arbeitete. Dabei gab es für ihn keinen Fest- oder Feiertag. Er arbeitete am Weihnachtsabend ebenso wie am Ostermorgen, an schönen Frühlingstagen ebenso wie an langen Winterabenden. Die einzige Er- hohlung, die er sich gönnte, bestand darin, daß er sich während der Dämmerung auf ein Viertelstündchen in das zugige Hausthor stellte oder in mein Zimmer kam, um mit mir ein wenig zu philosophiren. Er hatte nämlich — ich weiß nicht warum — Vertrauen zu mir gefaßt, und ich glaube, daß er eine Art von Zuneigung für mich empfand. Ich meinerseits interessirte mich auch für dieses seltsame Produkt einer Großstadt.
„Herr Neumann," fragte ich ihn eines Tages, „warum gönnen Sie sich nicht wenigstens am Sonntag Vormittag Rühe? Sie könnten dann doch auch einmal in die Kirche gehen."
Herr Neumann stand wie gewöhnlich während unserer j Unterhaltungen an den Kleiderschrank gelehnt und blickte nachdenklich zum Fenster hinaus.
„Was soll ich in der Kirche?" sagte er. „Warum gehen denn die Reichen nicht in die Kirche?"
„Nun, die Reichen gehen ja zum Theil auch in die Kirche, und dann erscheint es mir für uns recht gleichgiltig zu sein, was die Reichen thuu."
„Sie gehen nicht in die Kirche. Nur ihre Frauen gehen mitunter hinein, und die thun es auch nur, um ihre hübschen Kleider zu zeigen."
„Und wenn dem so wäre, was geht das uns an? Vor Gott sind wir alle gleich."
„Bor Gott? Es gibt keinen Gott, wie ihn die Pfaffen lehren. Es gibt nur die Natur. Wenn ich mich erbauen will, so kaufe ich mir eine Metze Kirschen und gehe in den Thiergarten und erbaue mich an der Natur."
„Aber Sie thun ja auch das nie!"
„Ich habe keine Zeit."
Kerr Weumarm.
Aus dem Skizzenbuche eines Vielgewandcrlen.