Heft 
(1878) 51
Seite
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Sie übertreiben. Den Sonntag Vormittag über könnten auch Sie Schicht machen."

Nein. Sehen Sie, früher als ich noch glaubte, daß wir nach dem Tode ein anderes Leben haben würden, wo es keine Reichen und Armen geben wird, das war was anderes. Aber seit ich weiß, daß jenes Leben uns nur von den Pfaffen vor­geflunkert wird, um das Volk dumm zu erhalten, seitdem habe ich keine Zeit. Meine Kinder sollen nicht auch arm sein."

Aber Herr Neumann, wenn nun die Pfaffen nicht ge­flunkert hätten? Wenn es einen Gott gäbe, vor dem wir der­einst Rechenschaft abzulegen haben, über unsere Thaten nicht nur, sondern auch über unsere Gedanken?"

Neumann sah noch immer znm Fenster hinaus in das Leere. Er schüttelte nur ein wenig den Kopf.Es gibt keinen Gott," sagte er.Alle klugen und studirten Männer sagen es und alle Zeitungen schreiben es. Nur die Pfaffen thun so, als glaubten sie an ihn, weil sie dafür gut bezahlt werden."

Nehmen wir einmal an, Sie hätten Recht. Wie traurig wäre dann das Menschenleben! Sie z. B., was hätten Sie dann für ein trostloses Leben geführt! Hätte es sich wohl ge­lohnt, geboren zu werden, wenn es nur geschah, damit Sie Ihr Leben lang in der kleinen dumpfen Stube den Schuster­draht handhaben?"

Ich habe mir das Leben nicht gegeben, und meine Kinder werden es einmal besser haben. Sie werden nicht dem Hand­werkerstande angehören. Nein, die eine wird zum Theater und die andere zum Circus."

Aber bester Herr Neumann, wissen Sie auch, welche Ge­fahren mit diesen Bernsen verbunden sind?"

Was für Gefahren? Sehen Sie, Fräulein Johanson, sie braucht nicht zu arbeiten und geht in Sammet und Seide."

Ich meine die Gefahr der Sünde."

Sünde! Das ist auch so ein Wort, das die Pfaffen aus­gedacht haben, um das Volk zu verdummen. Das ist ebenso ein Wort wie Buße. Ich habe drüben ein Buch, das hat ein Doktor geschrieben, ein gelehrter Mann, der sagt auch, es gebe keine Sünde. Alle gelehrten Leute meinen das warum sollen wir Armen nun das glauben, was für die Reichen und Gebildeten zu schlecht ist? Die Mucker und Reaktionäre wollen die Sache so theilen: sie wollen die Sünde behalten und wir sollen die Buße besorgen. Aber die Aufgeklärten lassen das nicht zu."

Glauben Sie denn wirklich, daß alle Reichen so denken?"

Warum soll ich das nicht glauben? Sehen Sie einmal in die Anzeigen der Zeitungen? Was für ein Schmutz wird dort angeboten! Und für wen? Für die Reichen. Oder gehen Sie einmal in das hier nannte er den Ort eines berüch­tigten Vergnügungslokals wen finden Sie da? Lauter Reiche. Wer sündigt denn überhaupt? Die Junker, die Offiziere, die Geldsäcke. Das Volk arbeitet, friert und hungert, aber es sündigt nicht. Es sündigt aber eigentlich überhaupt niemand. Ein Jeder sucht nur so gut zn leben, wie er irgend kann, ein Jeder denkt nur an sich."

Es trat eine Pause ein.Sie sagten vorhin," begann ich wieder,dieAufgeklärten" ließen es nicht zu, daß die Geist­lichen die unteren Volksklassen betrügen. Es gibt also doch auch Leute, die nicht nur an sich denken."

Sie denken auch nur an sich. Sie wollen Abgeordnete werden oder sie wollen viele Abonnenten haben. Wir Arbeiter sollten auch einmal an uns denken. Wir sollten einmal das Sündigen übernehmen und die Reichen Buße thun lassen. Die in den Zeitungen sprechen immer von Volksfreiheit und Ver­fassung. Was gehen uns die Volksfreiheit und die Verfassung an! Wir wollen Geld haben, damit wir gut essen und trinken nnd uns auch einmal amüsiren können."

Frau Neumann war eingetreten, um ihren Mann abzu­rufen, und hatte seine letzten Worte gehört.

Ja, ja," sagte sie,aber erst müssen die Pfaffen fort, die schlagen die Kinder todt."

Was heißt das?"

Nun, in meinem Heimatsdorf hat der Pfaffe das Gänse-

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Mädchen todtgeschlagen. Nein, ich sage nur, fort mit der Regie­rung und den Junkern und den Pfaffen."

Herr Neumann nickte der Frau zu.Ja, sagte er,und dann sollte man den Reichen das Geld abjagen, das sie aus dem Schweiße der Armen gewonnen haben. Dann werden wir gut zu essen und zu trinken und die Zeit haben, uns zu amüsiren."

Die Sozialdemokratie war damals schon ein halbes Jahr alt, aber wir wußten noch nichts von ihrer Geburt. Aus diesem Material wurde sie erbaut, und die Neumanns waren es, die sie so schnell cmwachsen ließen. Der gemeine Mann übersetzte sich eben dieResultate der Wissenschaften" in seiner Weise.

Eine tragikomische Geschichte möge diese Erinnerung ab­schließen. Eines Morgens bemerkte ich, daß Frau Neumann, als sie mir den Kaffee hereinbrachte, dick verweinte Augen hatte.

Was haben Sie?" fragte ich.

Damit hatte ich die Schleuße geöffnet.

O Gott, o Gott!" jammerte die Frau,was soll ich thun! Er ißt nichts, er trinkt nichts, er will sich verhungern!" Was will er?"

Er will sich verhungern."

Wer?"

Herr Neumann. Gestern hatte ich das Essen nicht zu rechter Zeit fertig gemacht, da sagte er: Du gehorchst mir nicht? Gut, so will ich nie wieder etwas essen. Und da kleidet er sich aus und legt sich ins Bett und ißt nicht und trinkt nicht. O Gott, o Gott, wenn er sich nun wirklich verhungert! Ist das nicht Selbstmord? Wenn es Selbstmord ist, so be­komme ich nichts aus der Lebensversicherung. O Gott, o Gott! und er sagt mir nicht, wer ihm noch Geld schuldig ist, nnd ich weiß nicht, wo er sein Geld stehen hat. Was soll ich thun, was soll ich thun?"

Ich suchte die geängstigte Frau zn beruhigen, rieth ihr das Lieblingsessen des Mannes zu bereiten nnd vor ihm hin­zustellen und begab mich dann ins Kolleg. Ich machte dann nach Tisch einen Ausflug nach Pichelswerder und kam erst spät abends nach Hause. Kaum war ich aber in mein Zimmer ge­treten, als auch Frau Neumann erschien. Sie war aufgelöst in Kummer nnd Verzweiflung. Sie hatte ihm Milchreis mit Pflaumen bereitet, aber er hatte sogar diese Speise nicht an­gerührt.

Am andern Morgen ging ich hinüber. Herr Neumann lag richtig im Bett, sah noch um eine Schattirung grün-grauer aus als gewöhnlich und blickte mich noch trauriger an als sonst. Die Frau heulte, gelobte abwechselnd Besserung und flehte um Angabe der noch ansstehenden Rechnungen, und Hulda und Amanda heulten mit. Ich suchte mir Ruhe zu verschaffen und redete dann dem Manne zn, das grausame Spiel zn be­enden.

Sie haben Ihre Frau ja jedenfalls hart genug bestraft," sagte ich.

Nenmann schüttelte den Kopf.Nein," sagte er,ich habe ihr so oft gesagt, sie solle mir das Essen rechtzeitig machen, nnd sie hat es immer nicht gethan. Jetzt esse ich nie wieder etwas. Wenn wir Armen nicht einmal das Essen rechtzeitig haben können, dann lohnt es sich nicht zu leben."

Der Tag verging nnd Neumann nichts. Als ich um Mitternacht nach Hause kam, flehte mich Frau Neumann an, zu dem mir befreundeten Sanitätsrath E. zn gehen und diesen um ein Mittel gegen das Verhungern zu bitten. Ich stellte ihr vergeblich vor, daß derselbe über kein Mittel verfüge, das nicht auch uns bekannt wäre, die Frau war aber so außer sich, daß ich mich schließlich hinsetzte, dem alten Herrn den Casus berichtete und ihn bat, am andern Morgen auf einen Augen­blick bei uns vorzukommen. Der alte Herr, den der Fall höch­lichst belustigte, kam denn auch wirklich, aber wir redeten Neu­mann vergeblich zu, zu verzeihen. Mehrere mir befreundete ältere Mediziner, die Frau Neumann herbei holte, konnten natürlich ebenso wenig helfen.

So unglaublich es klingt der Mann hungerte volle vier Tage. Ob er im Geheimen doch etwas genossen hat, weiß ich