Heft 
(1897) 10
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Ucker Land und Meer.

er entgegenging. Die ganze trauliche Süße ihres Zusammenlebens uberkam ihn. Die alte Liebe mit all ihrem wonnigen Zauber stahl sich in die Ab­schiedsstunde und band die beiden Menschen von neuem aneinander.

Am nächsten Tag war Hubert unterwegs. In dumpfem Grübeln saß er auf der harten Holzbank in dem überfüllten Coupe. Die Hitze war trotz der frühen Morgenstunde erdrückend. Durch alle Ritzen drang der Staub der ausgedörrten Erde. Dicke Wolken von Tabaksdunst lagerten über den Köpfen.

Es wurde viel hin und her geredet. Die Dürre, die Futternot, das hungernde Vieh, das in den Ställen jammervoll brüllte, das Elend der Bauern und Pächter gab einen unerschöpflichen Stoff.

Trotz der Menschen, die so dicht um ihn saßen, daß er sich kaum rühren konnte, war Hubert allein. Die große Einsamkeit fing an ihre Kreise um ihn zu Ziehen. Die schwatzenden, plappernden, wichtig- thuenden Leute mit ihren kleinen Sorgen es war gar nicht, als wären sie seinesgleichen. So fremd fühlte er sich ihnen. So gleichgültig ließ ihn das, was sie erregte.

Immer wieder fielen ihm die Augen zu, nach einer fast ganz schlaflos verbrachten Nacht. Eine Nacht, so furchtbar, wie er fie noch nicht erlebt hatte.

Was gestern geschehen war, welche Möglichkeiten er vielleicht heraufbeschworen hatte in einem Augen­blick der Selbstvergessenheit, unfaßbar, unaus­denkbar! Er hätte sich Züchtigen, quälen, Zerstören mögen in wilder Selbstverachtung.

Wo blieb sein Mut, seine stolze, fiegesgewisse Kraft, fein glühendes Selbstvertrauend All seine kühnen Pläne für sein Lebend

Klein war er heut, ganz klein. Hätte Karl Wedekind ihn so sehn können, vor dem er gestern noch geprahlt er hätte seinen Augen nicht getraut.

In halber Bewußtlosigkeit dämmerte er so hin. Manchmal ein kurzes Vergessen im Schlaf. Dann wieder ganz plötzlich, scharf und klar, stand alles vor ihm. Der Zorn auf sich selbst quoll auf und griff ihm würgend an die Kehle. Ihm folgte die Angst, die siedendheiß über ihn herlief und seinen Körper mit Schweiß bedeckte.

Hatte er darum so lange und allmählich die alten Bande zu lösen gesucht, um im Augenblick der Be­freiung sich selbst von neuem zu fesseln?

Was half es ihm, daß er jetzt in die Welt Hineinsuhr, daß der vorwärtsrasende Zug Meile auf Meile Zwischen sie legte? Johanna hielt ihn fest. Er wurde niemals frei. Er war verloren!

Und doch war's wohlthuend, dies Vorwärts­stürmen zu fühlen. Dies Rumpeln und Poltern, dies taktmäßige Summen und Hämmern, das dem eiligen Kriechen eines riesigen Tausendfüßlers glich, war doch Bewegung. Und es flog draußen an den Fenstern allerlei vorbei, Wälder und Dörfer und weite Felder. Wenn er dachte, daß er jetzt zu Hause sitzen müsse, in den alten vier Wänden, und das Klopfen des Schusters anhören und in dieser Umgebung diese Gedanken nein, es war doch Erlösung, Glück in allem Elend, daß er so schein­

bar sich selbst und feiner Vergangenheit entrinnen tonnte.

Jetzt donnerte der staubbedeckte, keuchende schwarze Wurm mit hohlem Getöse über eine Brücke. Eine lebhafte Aufregung bemächtigte sich der Mitreisenden. Sie standen auf, drängten sich an die Fenster, reckten die Hälse und äußerten Erstaunen, Bedauern, Schreck und Sorge in den mannigfaltigsten Formen.

Erft als jemand ihm einen heftigen Stoß ver­setzte und sich wortreich entschuldigte, fuhr Hubert aus seiner Teilnahmlosigkeit auf und sah mit starren Augen um sich.

Wir sind nämlich bei Riesa, mein guter Herr. Und da sind nämlich die Hungersteine zu sehn," sagte die freundliche Stimme eines kleinen Mannes, der Hubert gegenübersaß.Nee, so was! Das glaubt man gar nicht. Und kommt bloß alle Jubel­jahr mal vor."

Und nun kannegießerten sie alle eifrig durch­einander und hatten so viel mit sich und dem großen Ereignis zu thun, daß sie Hubert nicht weiter be­achteten.

Der sah mit seltsamen Gefühlen auf die Land­schaft hinab. Hier hatte er ein paar Jahre seiner Kindheit verbracht. Hierher hatte das wechselvolle Leben seinen Vater verschlagen. Er sah den knorrigen Menschen vor sich, der nie feine rauhe ostelbische Heimat vergessen konnte und dem geschmeidigen Sachsenvölkchen feindselig und unverständlich blieb. Immer hatte er hart gekämpft, um sich über Wasser Zu halten. Aber das Hungerjahr dreiundsiebzig hatte ihn arm gemacht. Bald darauf mar er gestorben.

Er dachte an seine Schwester Anna und an seinen Knabenstreich. Damals waren die Hunger- steiue plötzlich vor ihm aufgetaucht wie eine furcht­bare Warnung: Wenn ihr mich wiedersehet, werdet ihr weinen!

Und da lagen sie wieder vor ihm, nackt und kahl, gleißend in einer erbarmungslosen Sonne.

Jetzt, jetzt hatte auch er sein tiefstes Niveau erreicht.

Und brennendheiß fühlte er's in feine Augen steigen.

II.

Still im stillen Geländ' rinnen die Bäche.

Aber schranken-zertriinnnernd.

Bald ebbend,

Bald flutend,

Drängen die Ströme zum Meer.

Der Konsul Berghauer war nach Zweijähriger Abwesenheit Zurückgekehrt und hatte in Berlin noch einmal Station gemacht.

ImKaiserhof", wo er immer logierte, war in dem zu seinen Räumen gehörigen kleinen Salon ein Tisch für zwei gedeckt. Verheißungsvoll ragten ein paar Flaschenhälse aus dem Weinkühler empor. Das feine Porzellan, Glas und Silberzeug glänzten im Schein der Aprilsonne, die eben nach einer tüchtigen Husche wieder hervorgekommen war. Und Herr Professor Fritz Tappert, alias Onkel Uebrigens", zog mit Hilfe des Kellners seinen nassen Paletot aus, streifte die Gummischuhe von den Füßen und schüttelte seinem Vetter, übers ganze Gesicht strahlend, die Hand.