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Ueöer ^land und Meer.
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kaufmännische Ausbeutung der Kunst leider ein schlechter Dienst erwiesen, denn die Spekulation hat den Preis des köstlichen Materials zu fast unerschwinglicher Höhe Hinaufgetrieben.
Die Brüche von Serravezza sind nicht so bequem zu erreichen wie die von Carrara; dafür hat ihre Besteigung aber die Reize einer wirklichen Bergtour.
Von der Station Querceto, die durch die Aufschrift „Serravezza" täuscht, liegt das wirkliche Serravezza noch verschiedene Kilometer entfernt. Das ganze Gelände ist ein einziger Olivenhain, der wie ein lichtgrauer Schleier zwischen See und Gebirge liegt; der rote Marmorbruch von Ceragiola schimmert kräftig hindurch. Mit Freuden lernt man hier einmal den natürlichen Wuchs des Oelbaumes kennen. Drüben im Florentinischen und den angrenzenden Gebieten ist er verschnitten und niedergehalten; hier aber erreicht er mit seinem vielfach verschlungenen, ganz abenteuerlichen Stamm und der stolzen Krone eine gewaltige Höhe. An den Häusern ranken hohe Orangenspaliere, und feurig leuchten die reifen goldenen Bälle aus dem grünen Blätterschmuck hervor. Es ist ländlich still; nur die weißen, tiefgefurchten Wege und die meerwärts ziehenden Marmorfuhren lassen die Nähe eines Industriezentrums erkennen.
Bei Corvaja sind wir schon im Gebirge. Nur einen Blick im Vorüberwandern auf dieses überraschende Felsennest mit seinen hängenden Gürten, seinen von Farn umsponnenen steinernen Freitreppen, den Thorbogen, durch welche weitere Steintreppen sichtbar werden, die in die natürlichen Felsenstufen übergehen, einen andern Blick auf die rauhen Klippen, die hoch über diesem Terrassenbau in die blauen Lüfte starren — und nach kurzer Wanderung haben wir Serravezza erreicht.
Das Städtchen liegt schön am Zusammenfluß der Bergströme Serra und Vezza, von denen der eine aus den Schluchten des Altissimo, der andre von Valdarni herunterkommt; Marmor liegt an allen Ecken und Enden, die Straßen sind schneeweiß wie in Carrara, und auch das Gepoche und Gehämmer ist dasselbe wie dort.
Auf der Brücke, die neben der ersten Sägemühle über die Vezza führt, eröffnet sich ein Blick in die innere Bergwelt. Das enge Vezzathal erscheint im tiefen Hintergrund von der Pyramide des Monte Forato abgeschlossen. Unmittelbar davor hebt sich bei klarer Luft das kuppelförmige Haupt eines ringsum freistehenden, niedrigeren Berges ab, der die Gestalt eines Turmes hat und wie von Menschenhand geschaffen aussieht. Er heißt der Pro- einto und ist dadurch merkwürdig, daß sich an ihn die nie verklungene Sage knüpft, es sei Michelangelos Absicht gewesen, einen von den Bergen der Apuanischen Alpen in eine Kolossalstatue zu verwandeln.
Die beiden Ufer der Vezza sind von Marmorsägemühlen eingesäumt, die mit den Wassern um die Wette lärmen. Auch hier lagert Marmor in Mengen, aber die jungbelaubten Berghänge mit den niederschießenden Bächen, dem blühenden Ginster und dem alten, bräunlichen Grün der Steineichen mildern das grelle Weiß. Eine Geröllhalde senkt sich wie ein Gletscher ins Thal, daneben die Rutschbahn, aus der von hoch oben die Blöcke herabgelassen werden. Still und verlassen liegt der monumentale Riesenbau eines aufgegebenen Eisenwerkes inmitten der geräuschvollen Betriebsamkeit.
Hinter Ruosina verläßt die Straße das Vezza-Ufer und biegt in die rauhe Schlucht des Cansoli ein, der ein wildes Geröll in seinen grünen Füllen wälzt, und dem von alleil Felsen herab die Wasser als breite Sturzbäche oder als dünne Fäden zuschießen. Von oben blinkt steil und unzugänglich das lveiße Berghaupt herunter, dessen jenseitiger Hang von uns erstiegen werden soll.
Bis herauf in diese Oede sind uns die Mühlen gefolgt, freilich immer kleiner und primitiver werdend. Nach der letzten, die nur noch eine Ruine ist, empfängt uns die große Bergeinsamkeit, in der man nichts mehr hört als die brausenden Wasser und Vogelgesang.
Die Schlucht erweitert sich und mündet auf eine mächtige weiße Gsröllhalde, zu deren Füßen unter spärlichem Baumwuchs und Ginster eine Steinhütte nistet, und ein paar Arbeiter sind dort mit dem Zuhauen von Marmorblöcken beschäftigt. Diese Marmorwildnis heißt der Giardino, und der Name wird erst verständlich durch den Kontrast mit der nackten, sonnverbrannten Bergwand, die wir zu überwinden haben, um die tote weiße Marmorregion zu erreichen, die jenseits des Tunnels liegt.
Wie eine Wendeltreppe zieht sich der schmale Fußweg in endloser Steigung hinauf; die Abgründe, die zu unsrer Rechten immer tiefer hinunterfallen, sind nur selten durch Gebüsch oder blühendes Heidekraut dem Auge auf einen Moment entzogen. Hier wandern früh am Morgen die Frauen von Ruosina und Serravezza hinauf, ihren Männern den Mundvorrat in die Brüche tragend: herrliche Gestalten, die mit nackten Füßen, schwere Körbe auf dem Kopf, leicht wie im Flug den steinigen Hang erklimmen. Den Städtern legt er eine nicht verächtliche Leistung auf.
Oben öffnet sich das schwarze Thor des Tunnels, der in die Marinorbrüche führt. Ein alter Mann, der am Eingänge haust, sollte die Wanderer mit einer Laterne versehen, aber offenbar ist er mit dem linken Fuß aus dem Bette gestiegen, denn er weigert sich mit Gebrumm. Es
wird der Beschluß gefaßt, den Tunnel auch ohne Laterne zu betreten.
Wohl zwanzig Minuten lang geht man durch Finsternis und unergründlichen Schmutz. Von der Decke träufelt die Nässe wie ein Regen herunter. In der Mitte, als schon vom Ausgang her die Tageshelle wie ein fernes Lichtchen hereinschien, erwartete uns ein unbehagliches Abenteuer. Wir vernahmen plötzlich ein verdächtiges Getöse, das Tageslicht verschwand, das Gewölbe schlitterte, und Qualm erfüllte den Tunnel. Niemand hatte an die Marmifera gedacht, die in diesen Bergen ohne Schienen als ungeheure Dampflokomobile fährt. Das Stampfen und Donnern kommt näher, ein rotes Auge stiert uns durch die Dunkelheit an. Wir wissen weder, wie groß ihr Umfang ist, noch auf welcher Seite des Tunnels sie heranfährt. Rufen wäre bei dem Lärm vergeblich, also drückt die Gesellschaft sich platt an die Wand, die einen das Gesicht, die andern den Rücken der unbekannten Gefahr zuwendend. So vergingen Minuten, der Qualm wurde immer dichter, bis der schwarze Koloß hart in unsrer Nähe hielt. Ein Mann, der mit der Laterne vorauslief, hatte uns entdeckt, wie Fledermäuse an der Wand klebend, und befreite uns aus der peinlichen Lage.
Einmal am Tageslicht, geht es im Lauf bis zum Marmorbruch Tagliate. Eine Schienenbrücke führt über die Schlucht der Turrita Secca, deren wasserloses Bett sich hier so erweitert, daß es einem schlammigen, vertrocknenden Bergsee gleicht. Am Eingang des Bruches sind zu beiden Seiten feste Stützpfeiler und lange weiße Mauern aus geschichtetem Marmorgebröckel aufgeführt. Kleine Hütten aus unbehauenem Marmor, gleichfalls ohne Kitt zusammengefügt, stehen da und dort verstreut; ihr Dach bilden glatte Marmorplatten, die durch große Brocken rohen Marmors beschwert sind. Man kann sie nicht an- sehen, ohne an das „zuckerige Häuschen" der Hexe aus dem unvergeßlichen deutschen Märchen zu denken.
Das Betreten des Marmorbruchs ist hier völlig gefahr- > los, nur daß der Fuß einige Mühe hat, sich auf dem Marmorgrund, der vom Rollen der Steine glattgeschliffen ist, zu halten. In großen Quadern liegt der abgesprengte Marmor umher; er ist von wertloser Qualität und wird soeben von den Steinmetzen zertrümmert, um in die gähnende Tiefe geschüttet zu werden, die sich schon zum großen Teil mit dem Gerölle angefüllt hat. Auf diese Weise entstehen die scheinbaren Gletscher.. Lawinen giebt es auch, denn in der Höhe über uns wird der Berg „gefegt", und massenhaftes Gebröckel stürzt polternd herunter. Jeden Augenblick heißt es aufpassen und zur Seite springen. Ganz oben auf dem Grat sind angeseilte Männer beschäftigt, eine Mine anzulegen; von unten gesehen sind sie so winzig, daß ihr Thun sich nicht verfolgen läßt.
Besser Hütte es der Zufall nicht mit uns meinen können; durch den Aufseher, einen wetterharten Alten mit weißhaarigem Charakterkopf, erfahren wir, daß uns noch ein dramatischer Vorgang erwartet. Man beabsichtigt, eine der größten Minen springen zu lassen, die der Berg seit lange erlebt hat. Ein ganzer Felsvorsprung soll entfernt werden, damit das tiefer liegende edlere Gestein frei wird. Doch es soll noch eine starke Weile dauern, und unterdessen haben wir Zeit, uns weiter umzusehen.
Ein weißer, mit Schienen belegter Weg windet sich zwischen Bergwand und Abgrund hin; er führt tief in die Wunder der weißen, starren Marmorwelt hinein. In diesen Klüften schlummert das Kunstwerk der Zukunft! Wenn der Berg auf einen Augenblick durchsichtig würde! Sein Schoß ist ganz voll von Monumenten und Statuen; auch die Könige und Helden, die Dichter und Denker und Künstler der Nachwelt sind hier in Marmor beisammen. Welche erlauchte Gesellschaft! Aber es geht ebenso wie in der Menschenwelt: ans viele Nieten kommt ab und zu ein Treffer. Mancher ist nur hier, weil ihm die urteilslose Menge einmal nachlaufen wird, und er versperrt Besseren den Platz. Aber getrost: die Großen, auf die die Menschheit wartet, sind mit darunter.
Unterdessen ist die Mine fertig geworden; mit einem eisernen Stab und etwas aufgeschüttetem Wasser haben die Arbeiter ein tiefes Loch in das Gestein gerammt. Es wird ganz mit Pulver ausgefüllt und an der Oeffnung fest verstopft. Bevor die Lunte entzündet wird, ruft der Minenleger vom Felsen herab mit einer Stimme, die bis in die fernen Thäler und Schluchten trägt: „Mine — hoo!" worauf seine Gehilfen eilig das Weite suchen. In einein Nu ist der ganze Bruch von Menschen leer. Wir werden von dem Aufseher tief auf den Schienenweg zurückgedrängt, wo flache Felfennischen Deckung gewähren. Nochmals ruft der Minenleger ein lautschallendes „Ho!" zum Zeichen, daß die Lunte brennt, dann überklettert er am langen Seile so rasch wie möglich den Felsenscheitel, hinter dem er sich verbirgt. Aufsteigender Qualm zeigt schon die Stelle, wo die Lunte raucht. Lautlose Stille tritt ein, es dauert eine Zeitlang, bis die Lunte nach innen gebrannt ist, worauf der Rauch sich verzieht. Noch ein paar Sekunden, und nun ein heftiger Schlag, dessen Echo von Thal zu Thal forthallt, — man sieht Felsstücke in die Luft geschleudert und sollte nach der Erschütterung glauben, die ganze Felsenecke sei eingestürzt. Doch erweist sich bei der Besichtigung die Wirkung der Mine als ziemlich geringfügig.
Nun hat uns der Berg gastfreundlich mit all seinen Wundern bekannt gemacht, und wir können zufrieden gehen. Es versteht sich von selbst, daß wir diesmal den Tunnel mit einer Laterne passieren, und so stößt uns dort kein weiteres Abenteuer zu.
Um die steile Bergwand des Giardino zu vermeiden, folgen wir auf dem Rückweg der schönen Fahrstraße, die von den Ochsenfuhren und der Marmifera benutzt wird. Nach wenig Schritten ein überraschtes Halt: die weite Bergwelt, die zu unfern Füßen liegt, ist ganz unten am fernen Horizont durch einen blauen Streifen abgegrenzt; mit dem Fernglas lassen sich weiße, bewegliche Punkte darauf erkennen. Es ist das Meer mit seinen Segeln, das weite, blaue Meer, das uns erwartet! Dort hinunter geht unser Weg, und es ist, als wüchsen uns Flügel bei dem Anblick. Aus der Tiefe läuten jetzt die Abendglocken; ein friedliches Thal mit blühenden Kirschbäumen, das ebensogut in Deutschland liegen könnte, ladet zu kürzerem Abstieg ein.
Doch der Berg will uns nicht entlassen, bevor er uns noch ein letztes Wunder gezeigt hat. Auf halber Höhe der steilen Halde liegt eine kleine graue Ortschaft hingeduckr; Terrinca heißt sie. Auf abschüssigen Gassen, die mit spitzigen Steinen gepflastert sind, rutscht und stolpert man da in eine verzauberte Welt hinein. Die müden Sinne sind kaum mehr fähig, neue Eindrücke aufzunehmen, aber die Ueberraschung rüttelt sie noch einmal wach. Wir sind zwischen zwei enge Reihen kleiner, massiver Steinhäuser von der erstaunlichsten Architektur geraten; sind sie gemauert oder aus dem lebendigen Gestein gehauen? Es läßt sich nicht erkennen, so grau und bröckelig sind Thorbogen, Treppen und Pfeiler, so über und über mit Farn behängen. Viele Gassen sind gänzlich überwölbt, so daß nie die Sonne hineinscheint; über die andern führen von den Dächern schmale steinerne Brücken hinüber. Schöne Frauenbilder steigen mühelos mit bloßen Füßen auf dem spitzigen Pflaster herauf; sie tragen große, seltsam geformte Gefäße auf den Köpfen. Endlich gelangen wir, immer absteigend, aus der Dämmerung wieder ins Helle; ein flacher Kirch- platz thut sich auf, wo die ganze Dorfjugend feierabendlich beisammen ist. Die Kinder haben große hölzerne Schnarren in der Hand, wie sie in der Karwoche durch ganz Toskana üblich sind, und sie empfangen die Fremdlinge mit betäubendem Lärm. Und um das Maß des Befremdlichen voll zu machen, rast plötzlich ein Wahnsinniger, barfuß, die Glieder aufs unbegreiflichste schlenkernd, durch die Kinder- fchar, die nur noch toller hinter ihm herlärmt, bis der Unglückliche durch das Hintere Pförtchen der Kirche verschwunden ist.
Mit einer Art von Grausen verlassen wir das verhexte und doch so seltsam schöne Nest, und draußen unter den eben ausschlagenden Kastanienbäumen fragen wir uns, ob nicht das ganze Terrinca eine Fiebervision unsrer übermüdeten Nerven gewesen ist. Jetzt noch ein steiler Abstieg vierzig Minuten lang auf einer Pflasterung, die ein böser Geist ersonnen hat, dann ist die Cansolibrücke erreicht, und unten an der Ecke hält schon der Wagen, der uns in unser Nachtquartier an der Marina von Fortedeimarmi tragen soll.
Wie im Traum fliegen noch einmal die Erscheinungen des Morgens vorüber: die Cansolischlucht, das Eisenwerk, die Mühlen, aber es dämmert schon, und die Müdigkeit wird überwältigend. Auf der Landstraße von Ruosina bot sich den schlaftrunkenen Augen eine letzte Ueberraschung. Da stand im Mondschein einsam ein marmorner König am Straßenrand, lebensgroß, im wallenden Mantel, die Krone auf dem Kopf, mit dem Gesicht der Bergwand zugekehrt. Wie er dahin gekommen, weiß ich nicht; vermutlich war es ein „verhauener" Stein, den die Punktierer aufgegeben hatten.
Die Gegend wird immer flacher, bis etwas Helles durch die Oelbäume schimmert, und ein wachsendes Rauschen kündigt die Nähe des Meeres an. Fortedeimarmi liegt vor uns, das mit seinem von Marmor besäten Strande in der Abendstille einem weiten Friedhof gleicht.. Hier giebt es Nachtquartier, gute Kost, reinen Wein, und das Meer singt uns ein donnerndes Schlaflied. In der Frühe des andern Morgens sehen wir noch den Marmor auf die Schiffe verladen, reisefertig für den Welthandel, dann sagen wir den Marmorbergen und allen ihren Wundern Lebewohl.
Wenn der Leser noch einen Augenblick Geduld hat, möchte ich ihm jetzt ein letztes Bild zeigen: den Marmor, der im Begriff ist, menschliche Formen anzunehmen. Michelangelo pflegte zu sagen, daß die Statue schon fertig im Block stecke, man brauche nur die Schale wegzubrechen, und es ist ein tiefes Gesetz der Marmorplastik, daß man ihr den Stein, aus dem sie hervorgestiegen ist, noch ansehen soll. Das unmittelbare Herausschlagen des Werkes aus dem Blocke hielt die Alten bei diesem Grundgesetze fest; darum sind ihre Schöpfungen so überzeugend und dem Auge so wohlthuend.
Heutzutage wird das Loswinden aus dem Steine meist dem Punktierer überlassen, der nach mechanischen Messungen am Gipsmodell den Marmor um und um wegschlägt, bis sich durch Erreichung der richtigen Tiefen die Umrisse von selbst ergeben; in dieser Fertigkeit sind die italienischen Arbeiter unübertroffen. Dem Meister bleibt dann nur noch