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Ueöer Land und Weer.
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Sinnverwirrend kam ihm zuerst die Sache vor, und auch in seinem Gewissen regte es sich wie zum ehrlichen und heftig anfwallenden Widerspruch gegen die gewaltige Lüge; aber weiter als bis zu dieser ersten Regung brachte es der gute Tuba doch nicht, denn nun drang eine kleine, aber so eindringlich mahnende Stimme, die er für die Stimme der Vernunft hielt, an sein Gehirn, und:
„Tuba, mein Freund!" flüsterte ihm das Sümmchen zu, „was ist da zu machen? Ein Held mußt du nun gewesen sein, und als einen Helden mußt du dich notgedrungen anfspielen lassen und auch selber aufspielen, — denn, merke es wohl, wenn du gestern kein Held warst, was werden heute diese alle aus dir machen? Deine Fluchtkameraden wollen ja auch Helden gewesen sein, und ihnen Zuliebe mußt auch du das gewesen sein, wofür sie dich alle halten wollen! Sei nicht unvernünftig, Tuba, mein Freund! Lasse das Schicksal über dich ergehen; lasse dich mit Lorbeeren bekränzen! So schlimm ist es ja nicht, und wem schadet's am Ende? Und sage ihnen allen recht laut, daß sie alle Helden waren und Helden sind, — wie du! Thust du's nicht, mein armer Tuba, so werden dich alle diese Kameraden mit Steinen in die Unsterblichkeit schicken, — denn Helden müssen diese doch gewesen sein — mit dir, oder auch ohne dich! Also ermanne dich, o Tuba! Stehe ans! Nimm eine heldenhafte Miene an und lege dir heldenhafte Gebärden an und danke mit lauter Stimme den Göttern, daß sie dich und deine Heldenbrüder gerettet, und danke ihnen heimlich, daß alles so glimpflich abgelaufen!"
So sprach das Stimmchen zu ihm, so eindringlich, so schmeichelnd, daß die Stimme seines ehrlichen Gewissens gar nicht mehr durchzudringen vermochte, und am Ende war es ja auch viel angenehmer, vor dieser Dorfbevölkerung wie ein lorbeerbekränzter Held als wie ein flüchtiger, von Nosseshufe zusammengeschmetterter Feigling dazustehen.
Eine gute Weile blieb Tuba noch sitzen, den Kopf auf beide Hände gestützt, wie einer, der sich langsam vom Tode erholt, und schlürfte zuweilen einen Schluck kühlen Wassers und hörte, wie die Leute ringsum zu einander sagten:
„Der arme Mann! Die Götter mögen ihm die Kraft des Lebens wieder schenken!"
Und die Kraft des Lebens schenkten ihm die allgütigen Götter! Denn plötzlich erhob sich Tuba und mit heldenhafter Gebärde auf den Holzstoß deutend, rief er:
„Holt mir mein Schwert herunter und meine Posaune! Vom Tode bin ich auserstanden! Und reicht mir die Hand, ihr braven Heldenbrüder, daß wir zusammen wieder kämpfen für Rom, das heilige Rom!"
Nicht nur das Schwert und die Posaune hingen sie ihm jauchzend um, sondern auch den Lorbeerkranz holten sie herunter und drückten ihn auf seine blutige Stirn; und so trat er neben dem Priester vor das Volk, daß alles anfjubelte beim Anblick dieser jugendlichen Heldengestalt.
Und die Posaune setzte er an seine Lippen und blies lustig die Viktoriafanfare in die Luft.
„Bei den ewigen Göttern," rief er dann aus; „zum Rückzuge bläst Tubas Posaune nie und nimmermehr! Aber zur Viktoria wird sie wieder blasen! Das walten die allmächtigen Götter!"
Als er aber am Abend dieses denkwürdigen Tages allein in seinem Kämmerlein, in des Priesters Hause, saß, da kratzte sich der ehrliche Tuba einmal übers andre hinterm Ohr und murmelte vor sich hin:
„ Tuba, mein Freund! Da du gestern ein Held gewesen bist, so mußt du jetzt ein ganzer Held sein — und einer bleiben!"
Mit dem Zipperlein des Furius Gallus war es inzwischen allmählich besser geworden. Seitdem die römische Nachhut aus den Thoren ausgezogen war, hatte der Volkstribun eigentlich keinen wahren Anfall seines Wehes mehr verspürt. Er blieb aber dennoch aus Vorsorge und schon um mißliebigen Redensarten vorzubeugen dabei, sich nach wie vor auf seinem Eselskarren durch die Straßen ziehen zu lassen. Von dieser vierrädrigen Tribuna herunter waltete der Wackere halbsitzend seines Redneramtes auf dem Forum, und da in einem echten Tribunenherzen doch immerhin ein paar Tropfen Komödianten
blut mit umzulaufen pflegen, so hatte er sich, um seiner Rede noch mehr volltönende Würze zu verleihen, angewöhnt, seine Perioden von Zeit zu Zeit mit einem schmerzlichen Rufe zu unterbrechen und dann mit der Hand an seine Zehe zu fahren, ungefähr gerade wie der brave Philoktet in der alten griechischen Tragödie, der ja auch an so einer Art von Zipperlein litt.
Dem Volke, das auf Nachrichten von dem siegreichen Heer wartete, predigte Furius Gallus jetzt mit mahnend beruhigender Stimme Mäßigung und Geduld zu; man solle nur von den zum frischen fröhlichen Kampfe ausgezogenen Kriegern nicht zu viel verlangen; der Feind habe sich wohl, seiner angeborenen Feigheit gehorchend, vor den Römern zurückgezogen; aber man werde ihn schon in seinen entlegensten Schlupfwinkeln aufzufinden verstehen, und — aufgeschoben sei nicht aufgehoben. Eine Mahnung ließ sich aber Furius Gallus nicht nehmen, in jeder seiner Reden von neuem zu betonen; wie Catos Schlußreim mit Karthago, so kam auch dieser Schlnßreim immer wieder zum Vorschein und immer mit demselben Klatscherfolge:
„Den Sieg, o ihr edeln und tapferen Bürger Noms," so pflegte er laut über die Menge zu rufen, „den Sieg verdanken wir in erster und alleiniger Linie euren plebejischen Söhnen, den Kindern des Volkes, den Kriegern selbst, die dort ihr Leben in die Schanze schlagen, beileibe aber nicht den patrizischen Feldherren, die, wie jedermann weiß, weiter nichts sind als unnütze Dekorationsstücke, die hübsch hinter der Schlachtlinie Aufstellung zu nehmen pflegen, mit ihren Liktoren und andern: höchst überflüssigen und kostspieligen Waffengesindel, und sich aus ihrer sicheren Stellung das Schädelspalten mit Muße ansehen. Also, ihr edeln und tapferen Bürger Roms, wenn das Heer zurückkommt und es sich um Lorbeerkränze handeln wird, richtet euch ein, daß jeder Krieger seinen Kranz erhalte! Die Konsuln und Feldherren werden sich schon selbst ihre Kränze winden!"
Da ein jeder von diesen edeln und tapferen Bürgern Noms einen Sohn oder Neffen oder Vetter oder Freund im Heere zählte, so waren sie alle natürlich mit des Tribunen Vorschlag einverstanden, und so mußten die Frauen und Mädchen gleich zum voraus sich ans Kränzewinden machen, damit ja nicht ein einziger von den Kriegern bei der herrlichen Siegesbescherung leer ausgehe.
Da — es war am Abend des vierten Tages, als gerade alles auf dem Forum versammelt war und Furius Gallus wieder eine seiner volltönenden Reden losgelassen hatte — da ertönte plötzlich Hufschlag von dem Thor her, und da sah man einen staub- und blutbedeckten Reiter heransprengen.
„Ein Bote! Ein Bote! Ein Sieger!" rief es jauchzend ans tausend Kehlen, — aber im selben Augenblick verstummte auch der Ruf wieder, und eine unheimliche Stille lagerte sich über das Forum, als man sich diesen Siegesboten aus der Nähe betrachten konnte. Er hatte sein Roß gerade vor dem Karren des Gallus zum Stehen gebracht; seine Lippen zitterten, als wolle er sprechen, aber keinen Laut brachte er hervor, und starr und mit einem Ausdruck bangen Entsetzens schweifte sein Blick über die Menge.
Endlich löste sich seine Zunge, aber gleich bei seinen ersten Worten brach ein Sturm ans der Volksmenge los, daß man hätte glauben können, der Himmel werde einstürzen.
„Verloren!" stammelte der Bote, „geschlagen! Der Konsul tot, das Heer vernichtet! Auf den Fersen folgt mir der Feind!"
Verloren? Geschlagen? Vernichtet? Mit einem Satze hatte sich Furius Gallus von seinem Karren zur Erde geschwungen, gerade als ob er niemals das Zipperlein gekannt hätte, und auf den Unglücksboten sprang er nun los wie ein wilder Löwe.
„So spricht nur ein Verräter! Nieder mit ihm!" Und er faßte das Roß am Zügel. „Wie konntest du fliehen, wo die andern sich schlagen, Elender?"
Der Bote aber erhob flehend die Arme:
„Ich sage die Wahrheit! Nur diesem Pferde, dem Rosse des toten Sempronius, verdanke ich mein Heil! Ich habe gefachten, wie die andern! Wie Helden sind sie gefallen! Glaubt meinen Worten und schließt die Thore, sonst stürmen die Feinde bis zu euern Tempeln herein!"
Und richtig! Vom Walle her ertönte es wie schriller Posaunenton, das Zeichen der größten Gefahr, und von weitem drang auch schon ein dumpfes Getöse herein, als stürme ein ganzes Volk gegen die Wälle.
Ein Glück war es für die ehrbaren Forumsrömer, daß der in Nom verbliebene zweite Konsul, obwohl er weiter nichts als auch so ein überflüssiger Patrizier war, Wachen auf den Mauern aufgestellt hatte, und daß jene Männer dort nicht vor lauter Siegesgewißheit, wie Furius Gallus, die notwendigsten Sicherheitsmaßregeln vergaßen; denn als der Feind nun herangesprengt kam, da fand er die Thore verschlossen, und von den Wällen starrten ihm Lanzen und Schwerter entgegen.
Auch der wackere Furius Gallus war mit seinen Getreuen zu den Mauern geeilt, und unterwegs mußte nun der Bote alles genau erzählen, und er erzählte, was er wußte: Die Krieger, die hätten sich alle, alle tapfer geschlagen — aber die Feldherren, die wußten nicht einmal, daß die feindliche Reiterei hinter dem Hügel lag — und während der Konsul sich dort oben nicht rührte, da — ja! was nutzte da alles Heldentum? Der Feind stürzte in unsre Flanke und hieb alles nieder, rechts und links! Da aber habe einer gezeigt, was ein Römer zu thun hat, einer schwang sich aufs Roß — aus dieses selbe Roß, das einst den Feldherrn trug der Feldherr, der war aber weggelaufen! Und der eine sprengte nun gegen den Feind mit wildem Kampfesruf! Und der eine, der war Calpurnicus Tuba, der wackere, derbrave, der heldenmütige Tuba! Rückzug sollte er auf seiner Posaune blasen, da warf er die Posaune weg und sprengte gegen den Feind, der echte Römersohn! Der arme Held! Denn, o ihr allmächtigen Götter! ein Stein warf ihn vom Pferde, und mit zerschmettertem Schädel blieb er liegen, und nun war alles verloren, denn wo der Führer fällt, da füllt das Volk!
„Ha," rief da Furius Gallus, „habt ihr gehört? Habe ich nicht immer recht gehabt? Die Krieger waren alle Helden, und von den Feldherren wurden sie verraten! Und der größte Held von allen war Tuba! O Tuba! Warum bist du tot? Dich hätten wir jetzt zum Konsul ausgerufen, und du würdest Nom retten! Jetzt müssen wir Rom ohne dich retten!"
Sie retteten auch Nom ohne den guten Tuba, wie es eben ging. Der zweite Konsul mußte alles unterschreiben, was jene draußen vor den Thoren verlangten, und alles, was sie haben wollten, mußte er ihnen geben, Gold und Geschmeide, und auch ein Stück Land dazu, doppelt so groß als dasjenige, das die Römer ihnen abzunehmen ausgezogen waren.
„Sogar ein Stück von unserm Lande abzutreten weigert sich dieser elende Konsul nicht!" wütete aber Furius Gallus auf dem Forum, „ein Stück von unserm heiligen Land! Der Verräter!"
Und dachte gar nicht darüber nach, daß sie's ja gerade ebenso zu machen gedachten, wenn eben der andre Konsul nicht auch ein Verräter gewesen wäre.
Als der Feind endlich mit seiner Beute abzog, da höhnten ihm die wackeren Fornmsrömer von ihren sicheren Mauerzinnen nach, und dann jubelte alles, daß man endlich befreit sei und wieder aufatm en könne.
Nur eine ließ sich von diesem Jubel nicht mitreißen, und das war des guten Tuba alte Mutter. Das Volk hatte ihr Lorbeerkränze über die Thür- psosten gehängt, weil ihr Sohn ein Held gewesen war. Ueber Nacht riß sie aber die Kränze wieder ab und fegte die Streu in die Gosse, und als Gallus sie entrüstet darob zur Rede stellte und sie glücklich pries, die Mutter eines Helden zu sein, der Rom errettet haben würde, wenn man ihn nicht eben totgeschlagen hätte, da brach die alte Frau in Thränen aus, und ihm die Thür vor der Nase zuwerfend, ries sie schluchzend:
„Was habe ich davon, daß mein Kind ein Held gewesen, wenn mein Kind tot ist?"
Vor der Thür aber blieb Furius Gallus wie versteinert stehen, erhob dam: Augen und Hände zum Sternenhimmel und ries wehklagend aus:
„O Nom! o Römer! O du entartete römische Mutter!"
Sein Zipperlein schmerzte ihn schon längst nicht mehr. (Schluß folgt.)