L>eite 8.
Deutschland.
Die politische» Spuipathiren der Schwcher.
Von
I. Hk. Widmclnrr (Bern).
dem Dome strömt das Volk, schwarz, unzähligen Gewimmels" — diese Verse ans Justinus Kerners Grabesritt Kaiser Rudolfs erfüllten sich wirklich, als im vorigen Jahre im Münster der Bnndesstadt der schweizerischen Eidgenossenschaft zweimal für einen verstorbenen deutschen Kaiser die Leichenfeier gehalten wurde. Dieselbe war zwar beide Male von der kaiserlich deutschen Gesandtschaft in Bern angeordnet worden. Aber die Stadtbehörden stellten hierzu das große, altehrwürdige St. Vincenzenmünster zur Verfügung und verordnten das Läuten mit allen Glocken. Und die Menschenmenge, welche den Dom bis auf den, letzten Platz füllte und auch draußen vor den Thoren harrte, war eine sichtlich bewegte, teilnahmvolle. Drinnen, zunächst um Kanzel und Taufstein, saßen die Mitglieder der deutschen Kolonie in Bern und in der Schweiz; aber die weiteren Räume waren durchweg von Schweizern angefüllt, die ebenso sehr dem alten Heldenkaiser, wie später dem Friedenssürsten der neunundneunzig Tage eine freundliche Huldigung des Herzens darbrachten. Es darf auch erwähnt werden, daß bei beiden Traner- anlässen in schweizerischen Zeitungen einige mehr gut gemeinte als gut gemachte Gedichte erschienen.
Das ist nun — darüber soll sich nur niemand einer Täuschung hingeben — seit dem Frühling dieses Jahres gründlich anders geworden. Um aber hier öffentlich getreue Rechenschaft abznlegen, wie viel oder wie wenig für Deutschland bei diesem Umschwung in der Stimmung der schweizerischen Nation verloren gegangen ist, müssen wir vor allen: untersuchen, worauf die eben geschilderte Sympathie mit Deutschland sich gründete und in welchen Klassen der Bevölkerung sie vorherrschend war.
Herzenssache war sie bei jener naturgemäß kleinen Zahl höher gebildeter Deutsch-Schweizer, die sich mit dem deutschen Geiste eins wissen, die deutsche Litteratnr, die deutsche Wissenschaft als köstlichste Güter hochschützen und im Gefühl solcher Stammverwandtschaft mit Gottfried Keller Helvetien zwar die Mutter, Germanien die Großmutter nennen. Bei diesen kann sie auch jetzt nicht ganz erstorben sein; was sich auf solche Beziehungen edelster Art gründet, unterliegt nicht leicht den Schwankungen der Tagespolitik, aber es bekommt einen tragischen Zug, wenn man sich durch äußere Notwendigkeit in die Nolle der Gegnerschaft gedrängt sieht da, wo man vertrauensvoll lieben möchte.
Die Sympathie mit Deutschland war jedoch auch Verstandessache, wenigstens bei den reiferen Politikern der Schweiz, also vor allem bei ihren leitenden Staatsmännern. Nicht allein die gewaltige Stärke, zu der sich seit 1870 das Deutsche Reich entwickelt hatte, imponierte; sondern man achtete, ehrte und schützte auch seine planmäßige äußere Politik und die unstreitig großen Erfolge derselben, die Gründung einer mächtigen Frie- ! densallianz mitten in Europa. Die Wirkung dieser Wahrnehmungen mußte eine um so größere sein, als gleichzeitig Frankreich in schweren Fiebern lag, und namentlich die Boulanger- tragikomödie den gesunden, nüchternen Sinn der Schweizer an- widerte. Das Zweckmäßige, Vernünftige und Erfolgreiche hat ! ganz besonders auf ein die Besonnenheit als höchste Tugend verehrendes Volk wie die Schweizer eine geradezu fascinierende Wirkung. Auch daß man bemerkte, wie in Deutschland der Wohlstand sich steigerte, Handel und Gewerbe einen ungeahnten Aufschwung nahmen, vermehrte derartige Eindrücke, und so erstreckte sich diese verstand es müßige Sympathie der Schweizer für Deutschland ziemlich tief in alle Volksschichten, auch in diejenigen, in welchen das Herz ganz andere Sympathieen hatte, wovon weiter unten alsobald die Rede sein soll. Es entstand ein achtungsvolles Verständnis für den Wert des großen Nachbarstaates.
Auch der Militärgeist der Schweizer weckte in ihnen Sympathieen für die erste Militärmacht Europas. Da sogar
in: Schnitt der Kleidung, wenigstens der Offiziere, die schweizerische Miliz die Einrichtungen der deutschen Armee nachahmt, da man in den Exerzierreglements preußische Vorbilder zum Muster genommen hat und schweizerische Rekruten z. B. ebenfalls geübt werden, die Feldschanzen mit dem bekannten „Hurra!" zu stürmen, konnte es nicht ausbleiben, daß solche Nachahmung in Verbindung mit der Erinnerung an die großen Thaten des deutschen Heeres von 1866 und 1870 sympathische Gefühle weckte.
Endlich ist noch gewisser schweizerischer Parteisympathieen für Deutschland Erwähnung zu thun. Auch die Schweiz hat noch einen in der innern Politik allerdings ziemlich einflußlosen Rest von Feudal-Adel, der in Bern seine reinsten, man möchte fast sagen, ritterlichsten Vertreter findet. Wenn nun auch diese Adeligen, — in der Schweiz als „Patriziergeschlechter" bezeichnet, — ihre Bildung mehr von Frankreich als von Deutschland her beziehen und unter sich vorzugsweise die französische Sprache Pflegen, worüber sich bei ihren Bestachen in Bern schon Goethe und später Platen gewundert hat, so ist solchen Kreisen doch die Bedeutung, deren sich der Adel als Leibgarde des Throns in Deutschland zu erfreuen hat, ganz besonders angenehm. Man erinnere sich, daß einzelne dieser Geschlechter vor dreißig Jahren in NeuckMel sogar einen Aufstand anzettelten, um NeuckMel ganz an die preußische Krone ansznliefern, was dann freilich im Gegenteil den Verzicht auf NeuckMel seitens der preußischen Krone zur Folge hatte. Ähnliche Belleitäten sind jetzt, nach der Befestigung des schweizerischen Bundesstaates, wohl keinem dieser Patriziergeschlechter mehr znzutranen; aber platonische Sympathieen bestehen noch immer, und nun: liest in diesen Kreisen, soweit man überhaupt deutsch liest, mit Vorliebe die Romane von Verfassern ans deutschen Adelskrcisen, z. B. einer Zöge von Mantenffel n. s. w. Natürlich umfaßt die konservative Partei außer eigentlichen Patriziern auch viele reiche oder behäbige Leute ans gewöhnlichem Bürgerstande. Diesen allen ist Deutschland wertvoll als der stärkste Schutzmann in Europa gegen die Sozialdemokratie. Da in den Zeitungen aller Länder fortwährend das rote Gespenst einer kommenden großen Umwälzung an die Wand gemalt wird, nötigt ein gewisser Instinkt der Selbsterhaltnng diejenigen Klassen, die dabei am meisten zu verlieren hätten, zur moralischen oder „Gesinnnngsunterstütznng" desjenigen Staates, von dem man annimmt, er werde eine solche Umwälzung am längsten hintanzuhalten und ihr, wenn sie dennoch kommen sollte, am kräftigsten entgegenzntreten wissen.
Sieht man sich nun diesen unseren Rechenschaftsbericht über die bisherigen Sympathieen der Schweizer für Deutschland genau an, so wird man finden, daß einerseits eine Geistesaristokratie, anderseits eine Geburts- und Geldaristokratie bei diesen Sympathieen am meisten beteiligt sind.
Diesen gegenüber bestand null von jeher in der breiten Masse des schweizerischen Volkes eine starke Unterströmnng französischer Sympathieen.
Daß solche bei den französischen Schweizern auf Sprach- nnd Rasseverwandtschaft sich stützen, ist so natürlich, daß hierüber nicht viele Worte zu verlieren sind. Der französische Schweizer, feurig patriotisch, würde zwar, sobald die französische Regierung die schweizerischen Interessen verletzen sollte, ein entschiedener Franzosenfeind sein, muß aber, soweit dies nicht geschieht, naturgemäß mehr zu französischem als zu deutschem Wesen Hinneigen. Es ist schon nicht leicht, für ein Volk eingenommen zu sein, das eine zehnmal so schwere Sprache spricht als die eigene. Vielleicht liebt deshalb kein Volk aufrichtig die Russen, weil man immer den schreckenden Hintergedanken hat: wenn wir russisch lernen müßten! — Auch die italienischen Schweizer, die Tessiner, neigen als Romanen sich mehr dem französischen als dem deutschen Geiste zu.
Doch nun der Hauptgrund für die französischen Sympathieen auch bei den Deutschschweizern. Er drückt sich in den vier Ziffern aus: 1789. Kenner der Schweizergeschichte möchten vielleicht als Einwendung den Vorschlag machen, die beiden letzten Ziffern umzukehren, l798 zu schreiben, da im Jahre 1798