Seite 10. Deutschland. ZF 1.
Von
H-ritmemilgen aus meinem Aeben.
Friedlich Spielhagerr.
bürgerliche Menschen pflegt die Fnmilientradition eine wortkarge Muse zu sein. Kaum, daß sie noch von den Großeltern ein weniges und das Wenige meistens auch nur gelegentlich, ohne rechte Folge und Zusammenhang zu berichten sich herbeiläßt. Fragt man sie nach den Urgroßeltern, so kann man schon von Glück sagen, wenn sie noch einen oder den andern Ilmstand aus ihrem lückenhaften Gedächtnis herausfindet. Die Regel ist, daß sie dem Frager jede Auskunft verweigert.
Freilich dürfte sie auch bei bestem Willen und nicht getrübter Erinnerung in den seltensten Fällen etwas mitznteilen haben, das für andere als die zunächst Beteiligten — ich meine: die Frager selbst — von irgend einem wesentlichen Interesse wäre. Sie, nach denen gefragt wird, hatten eben nichts ge- than, was sie aus der Menge heraushob: gemeine Soldaten in dem unübersehbaren Heere, das von Generation zu Generation den heißen Kampf um das kärgliche Dasein kämpft: tüchtige, brave Leute, nehmen wir an, die ihren bescheidenen Platz ausfüllten, ehrlich ihre Pflicht thaten, um dann rühmlos zu ihren rühmlosen Vätern versammelt zu werden.
Ein Umstand kommt hinzu, der die Gedächtnisschwäche besagter Muse zu erklären, allerdings auch zu entschuldigen geeignet ist. Man überläßt sie zu sehr ihrem natürlichen Hange der Vergeßlichkeit, hält sie nicht durch eifriges Nachfragen wach, fragt sie wohl gar nicht oder so spät, daß sie mit Fug und Recht für ihr Nichtmehrwissen sich aus die Wohl- thaten des Verjährungsrechtes berufen kann. Und das letztere mit besonderem Rechte, wenn die späten Frager zu einer Familie gehören, in welcher das zweifelhafte Glück verhältnismäßiger Langlebigkeit sich durch ein paar Generationen fortgeerbt hat. Ein paar Generationeil nur, die dann wohl ein volles Jahrhundert umfassen, zu dem, falls man noch eine Generation weiter zurückgeht, ein halbes Jahrhundert leicht hinzukommt.
Dieser durchaus nicht wunderbare, aber für den Beteiligten immerhin verwunderliche Fall ist der meinige.
Ich stehe, indem ich diese Zeilen schreibe, in meinem einundsechzigsten Lebensjahre. Mein Vater, im Jahre 1786 geboren, starb 1856, siebenzig Jahre alt. Sein Vater, dessen ältestes Kind er war, muß also, — bereits hier stoße ich aus eine Lücke in der Familientradition — falls er sich, wie landesüblich, ill dem Anfang seiner dreißiger Jahre verheiratete, wenig nach Goethe und jedenfalls ein Lustrnm vor Schiller das Licht der Welt erblickt haben. Mit meinem Urgroßvater würde ich bereits über Lessing hinaus, vielleicht bis an den Anfang des vorigen Jahrhunderts geraten.
Bon diesem meinem Urgroßvater väterlicherseits weiß die Erinnerung schlechterdings nichts mehr. Nur vermuten möchte
^ Aus einem autobiographischen Werke des Verfassers, das demnächst unter dem Titel „Finder und Erfinder" erscheinen wird, lind dessen bereits vollendeter erster Teil uns zur Verfügung gestellt ist. Die Redaktion.
ich, daß er an demselben Orte gelebt und dasselbe Amt bekleidet hat, wie sein Sohn, mein Großvater. Dieser aber lebte in oder doch bei dem Dorfe Tucheim, — nicht weit von Gen- thin, in jenem Teile der preußischen Provinz Sachsen, der zwischen Elbe und Havel liegt und altmürkischer Boden ist, — seines Amtes herrschaftlicher Förster der gräflich Schulenbnrg- schen Familie. Und wenn ich vermute, daß bereits der Vater des Großvaters dieselbe Stellung inne hatte, so ist es deshalb, weil mein Vater wiederum zum Nachfolger seiues Vaters bestimmt, ja, uach dem Tode desselben bereits in seine Stelle getreten war und sie auch Jahre hindurch verwaltet hat, bis er sich bewogen fand, die Jägerei als Gewerbe aufzugeben und sich einem andern Beruf zu widmen.
Vielleicht der erste, der auf diese Weise aus dein engen Kreise trat, in welchem sich seine Vorfahren seit unvordenklichen Zeiten leiblich und geistig als dienende und in der guten alten Zeit hörige Leute bewegt haben mochten. Die Familie aber möchte ich als eine gut märkische in Anspruch nehmen. Ich habe dafür freilich außer jenem mutmaßlichen Erbförstertum nur einen Grund, dessen Beweiskraft allerdings zu wünschen übrig läßt: ich meine den Typ des Figürlichen, wie er deutlich genug bei vielen Mitgliedern meiner Familie angetroffcn wird und der völlig identisch ist mit dem, welchen Franz Ziegler, einer der besten Kenner der Altmark und ihrer Menschen, als den durchgängigen der dortigen Bevölkerung bezeichnet:
„Er" — der Landwehrmann Krille „war an Gestalt (und Geist) das richtige Kind seiner märkischen Heimat. Etwa fünf Fuß vier Zoll groß, mit langem Oberleib, kurzen, kräftigen Beinen, breiten Schultern, tüchtigem Brustkasten und festen Rippen, die, ohne Rücksicht ans Taille, für Lunge und Leber hinreichend Platz gewährten, starken Armen, einem kräftigen Kreuz, war er der richtige Alaun zu aller Arbeit und der richtige Tvrnistertrüger. Ans seinem runden Kopfe, den braunes, etwas von Sonne, Regen und Wind verschossenes Haar bedeckte, sahen ein Paar blnngraner Angen, die den fröhlichen, fast neckenden märkischen Ausdruck hatten, und seine gesunden, starken, weißen Zähne konnten alles, was eßbar war, leicht zermalmen."*
Das ist, wenn ich der Körpergröße zwei Zoll zulege, Zug für Zug das leibliche Bild meines Vaters. Ich, der ich im übrigen durchaus seine Statur geerbt habe, bin sogar gewissenhaft genug gewesen, das von Ziegler angegebene Dnrchschnitts- maß des Märkers streng einzuhalten.
Übrigens kann die Familie, ans der ich väterlicherseits stamme, eine sehr verbreitete nicht gewesen sein. Den immerhin etwas wunderlichen Namen habe ich sonst in Deutschland nirgends angetroffen; und auch iu der Mark, wohin ich die Heimat der Familie verlege, war er uoch vor fünfzig Jahren äußerst selten, während allerdings die letzten Generationen durch zahlreiche Nachkommenschaft für seine weitere Verbreitung über die benachbarten Landschaften, besonders aber auch iu Berlin, thätig gewesen sind.
Von meinem Großvater-Förster hat sich kein Konterfei, nicht einmal einer jener Schattenrisse erhalten, welche damals wohl die kahlen Wände kleinbürgerlicher Stuben zu schmücken pflegten; und ebensowenig von meiner Großmutter, der Frau Försterin. Die gesamte Tradition über sie ist in dem beschei-
^ Franz Ziegler. Gesammelte Novellen. I. S. 326.