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Deutschland.
Aufgabe es sonst ist, den vom Kampfe Geschwächten die Friedensbedingungen imperativ anzuraten, war von dem gräßlichen Schauspiel so tief erschüttert, daß es auf jede Einmischung verzichtete und den Sieger gewähren ließ. Der Sieger vergaß die eigennützige Ausbeutung des gewonnenen Vorteils, der Besiegte empfand seine staatliche Vernichtung nicht als einen Schmerz. Wie ein Erdbeben war es über die Lande gegangen: unheimlich und unentrinnbar. Granaten hatten schon früher Verderben gespieen; doch selbst der überlegenen Kraft gegenüber hatte der Mensch noch das eigene Kraftgefühl nicht verloren. Jetzt aber erwürgten die neuesten Errungenschaften der artilleristischen Technik wie ein sagenhafter Pesthauch alles Begegnende, und ihre Brisanz wühlte zugleich den Boden zu einem Grabe für die Vergifteten auf. Jedermann hatte das Gefühl: es sei mit den Kriegen auf absehbare Zeit zu Ende, es würde kein Diplomat und kein General wagen, noch einmal das Spiel zu beginnen, das den Besiegten tötete, den Sieger zur Gottesgeißel machte und die Zuschauer mit Trübsinn erfüllte. Dieser erste Krieg mit den neuen Waffen war auch der letzte gewesen. Deutschland und Frankreich hatten ihn geführt, einem Verhängnis folgend, nach welchem Europa für diese Nachbarn keinen Raum zu haben schien. Die Gefühle, aus denen die fortgesetzte Reizung, dann die Kriegserklärung hervorgegangen war, gehören der Geschichte an; sie selbst sind verschwunden und damit haben auch die Rekriminationen aufgehört. Die Franzosen hatten aus dem Feldzuge 1870/71 nichts gelernt, sie zeigten die gleiche Unfähigkeit wie damals, sich in das Unvermeidliche zu fügen, und bewiesen bannt, daß sie nur dem Naturtriebe, nicht planvoller Absicht gefolgt waren, als sie von Verderben zu Verderben rannten. Doch was in dem früheren Feldzuge den Anschein heroischen Elans hatte, das war hier zur selbstvernichtenden Verblödung geworden, die in neues Unheil stürzt, weil ein erstes Unheil unfaßbar groß gewesen.
Der Friedensschluß ließ diesmal keine Verbitterung zurück. Die Veränderung der Landkarte wurde mit gedankenloser resignierter Gleichgültigkeit von allen Beteiligten hingenommen, die Neugestaltung vollzog sich ohne Widerstand und gleichwie im Traum. Das galt für die Gewinnenden nicht minder, als für die Verlierenden. Die einzelnen Staaten nahmen den Zuwachs an Landgebict, die französischen Provinzen ihre Aufteilung wie eine Schickung hin. Daß Deutschland seine Grenzen nicht über die Vogesen hinausschob, was es leicht Hütte thnn können, erklärt sich einzig aus dem Wunsche, den vernichteten Nachbar nicht mehr zum Nachbar zu haben, aus der Scheu vor einer ferneren Berührung, die schreckensvolle Erinnerungen heraufbeschwören konnte. Nur auf weiland französische Kolonieen legte es seine Hand, gewissermaßen instinktiv die Pläne ausführend, die Wünsche erfüllend, die in den glücklichen Zeiten des bewaffneten Friedens seinen strebenden Ehrgeiz ausgemacht hatten. Die Aufteilung aber geschah in folgender Weise:
Die westafrikanischen Besitzungen Frankreichs, Senegam- bien und Gabun, über eine Million Quadratkilometer umfassend und mit einer Einwohnerzahl von mehr als zwei Millionen, fielen an Portugal, dessen afrikanischer Einfluß hierdurch eine wesentliche Stärkung erfuhr. Vielleicht Hütte es näher gelegen, mit dieser kolonialen Ausstattung Spanien zu versehen, dessen natürliche Handelsbeziehungen auf eine solche Vereinigung hinwiesen. Am Ende war es die Nachwirkung der Jahrhunderte alten Lehre von dem Gleichgewicht der europäischen Mächte, welche Spanien von der afrikanischen Erbschaft ansschloß, weil man dieser Halbinsel auf dem Kontinent einen bedeutenden Landzuwachs zuwies, während Portugal für die notgedrungen andauernde Beschränkung seines Stammlandes im schwarzen Erdteil entschädigt wurde. In solchen schicksalsschweren Augenblicken achtet man begreiflicherweise überhaupt wenig auf so kleinliche Dinge, wie natürliche Handelsbeziehungen cs sind. Das Erbe Frankreichs war ja so reich, — man hätte kann: glauben mögen, daß an dem winzigen Stammkörper so mächtige Glieder hängen konnten. Eigentlich hingen
sie auch nicht daran, denn ihre Ablösung machte keine anderen Schwierigkeiten, als welche in der Notwendigkeit liegen, eine neue Farbenzusammenstellnng in Fahnen und Emblemen als vaterländisch und angestammt betrachten zu lernen. Italien übernahm aus Frankreichs erstarrten Händen das Protektorat über Tunis, dessen Bey die Oberhoheit eines Königs viel verständlicher fand, als die einer auflösbaren Kammer von siebenhundert Mitgliedern. Den übriger: afrikanischen Teil ans der Masse des französischen Bankbrnchs nahm Deutschland an sich. Die Insel Madagaskar wurde deutsches Schutzgebiet, — Königin Nanavalo III. entsandte eine Huldigungs-Deputation nach Berlin, — Algier eine deutsche Provinz. Symbolisch gleichsam hatte Deutschland auf den Nordwesten Afrikas und ans den Südosten die Hand gelegt. Wenn Emin Pascha überhaupt noch zu retten war, so standen jetzt nationale Wege zu ihm offen. Annam, Tongking, Kambodscha und französisch Kochinchina wurden der chinesischen Oberhoheit unterstellt, die westindischen Besitzungen Frankreichs gewannen Selbständigkeit. Neucaledonien wurde einfach vergessen. Der dortige Gouverneur fühlte Geist und Bült eines Nettelbeck in sich. Er schuf eine Deportiertengarde, die sich vor nichts, am allerwenigsten vor Gott fürchtete, und bekundete in feierlichem Trinksprnch seinen Entschluß, die Insel bis zum letzten Mann zu verteidigen. Es war ihm nicht beschieden, sein Wort wahr zu machen, dem: die Insel wurde nicht angegriffen.
Wenig anders ging es mit Frankreichs europäischen: Besitz. Daß die Insel Corsica den: italienischen Staate angc- gliedcrt wurde, ist beinahe selbstverständlich. Von den achtundachtzig festländischen Departements Frankreichs fielen achtzehn mit fast sieben Millionen Einwohnern gleichfalls an Italien. Es waren dies die Departements Var, Vnnclnse, Alpes maritimes, Basses-Alpes, Hantes-Alpes, Gnrd, Ardöche, Drome, Jsdre, Loire, Hante-Loire, Saone et Loire, Rhone, Bonches du Rhone, Allier, Ain, Savoie und Haute-Savvie. Von den: Stammlande Frankreichs war etwa der sechste Teil italienisch geworden.
Noch größer war der Anteil Spaniens an dem französischen Erbe. Nicht weniger als dreiundzwanzig Departements mit acht Millionen Einwohnern und einer Flächenansdehnnng von dritthalbtausend Quadratmeilcn vergaßen die Scheidewand der Pyrenäen und dachten nur noch der engen Beziehungen, welche schon vordem der Pyrenäen gespottet hatten, wenn es galt, von französischem Boden ans die Regierung des Nachbarstaates zu beunruhigen. Ein Zorilla fand sich immer, wenn man in Paris den: spanischen Reiche Unbequemlichkeiten bereiten wollte, und wenn es an einem Marschall gebrach, so fand sich doch die spanische Ausgabe eines Foncanlt de Mon- dien. Die Pyrenäen-Departements schienen stets nur deshalb französisch zu heißen, damit die spanische Regierung dort dei: spanischen Nebelten nicht beikommen könne; die Spanier aber, die gerade nicht regierungsfähig waren, fühlten sich dort in dieser Zeit zu Hans. Jetzt kam die Nemesis: ans den pseudo- spanischen wurden echt spanische Departements, und die spanische Hand griff, da es doch in einem hinging, gleich etwas höher. Aber nein: man darf den Spaniern nicht unrecht thnn. Sie standen gar nicht nach dem französischen Besitze; nur als Landflucht fast alle französischen Lande ergriff, öffnete es gastlich den Vaterlandsmüden seine Thore. Die Form, in welcher dies geschah, war lediglich ans physischer Notwendigkeit die der Grenzverschicbung und Annexion. Die dreiundzwanzig nenspanischen Departements waren: Hantes-Pyrenöes, Basses- Pyrcnöes, Pyrenöes-orientales, Lot et Garonne, Lot, Tarn, Tarn et Garonne, Hante-Garonne, Gers, Gironde, Dordogne, Aude, Höranlt, Lozdre, Landes, Aridge, Corrsze, Cantal, Charente, Charente-införieure, Haute-Vienne, Puy de Dome, Aveyron.
Auch bei der Schweiz war es nicht Annexionslust, welche zur Aufnahme von vier Departements — Nidvre, Doubs, C6te d'or und Haute-Saone — mit anderthalb Millionen Einwohnern und vierhundertundachtig Qnadratmeilen Ausdehnung trieb. Die Schweiz nahm diese Departements auf, wie