Heft 
(1889) 01
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Deutschland.

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Auch der Realismus der Regiekunst, so wie er gegenwärtig zur Mode geworden ist, begann eigentlich in Berlin. Der Herzog von Meiningen hatte diese neue Form des Realismus zwar erfunden, aber die kostspielige Sache galt lange Zeit nur für eine Kuriosität, für fürstlichen Luxus. Erst seitdem großstäd­tische Privatbühnen diese Gewissenhaftigkeit in Kleinigkeiten über­nommen und damit große Erfolge gehabt hatten, ist dieser Rea­lismus zum allgemeinen Schlagwort geworden, und heutigentags begnügt sich selbst der kleinste Provinz-Regisseur nicht mehr mit der alten Regel: Vor Christi Geburt Sandalen, nachher Ritterstiefel.

Dieser Realismus der Regiekunst ist in den letzten Jahren au den wichtigsten Berliner Bühnen derart mißverstanden wor­den und nach einer falschen Richtung so sehr allsgeartet, daß er bereits eine Gefahr für unser Drama genannt werden kann. Sonst ganz moderne Köpfe sind dadurch auf den verzweifelten Einfall gekommen, das Ausstattungsunwesen und den Realis­mus in einem Atemzuge zu verdammen, wie Bettelmönche Ein­fachheit zu predigen und eine asketische Bühncneinrichtung vor­zuschlagen, wie sie niemals und nirgends bestanden haben kann. Der echte Bühnen-Realismus aber, wie er im Wechsel der Zeiten immer seine großen Vertreter gefunden hat, ist nichts weiter, als eine einzelne Äußerung des Realismus, welcher unsere Zeit, das Ende des neunzehnten Jahrhunderts, nun einmal be­herrscht. Politik und Knust, Dichtung und Wissenschaft, Leben und Liebe ist realistisch geworden; der arme Regisseur, welcher nach Ansicht seines Direktors der Kunst das Sofa zu tape­zieren hat, kann sich nicht ausschließcn. Ein großer Philosoph, welcher über seinen eigenen Schatten zu springen und sich über den Gedankengehalt seiner Zeit hinwegzusetzen vermöchte, dürfte wohl die Frage untersuchen, ob dieser Realismus in der Ent­wickelung der Menschheit einen Vor- oder einen Rückschritt be­deutet. Wir andern stehen einmal nicht auf so einsamer Höhe und siild alle zusammen Realisten, ob wir wollen oder nicht. Der Theater-Regisseur vollends, der kaum über den Schatten seines dicken Direktors springen darf, muß dem herrschenden Realismus selbstverständlich dienen.

Auch der Dichter dient ihm. Als moderner Mensch ist er eben ein Realist; und wo sich hinter dem Dichter ein Geschäfts­mann verbirgt, da ist der Realismus erst recht Herr. In dem breiten Betrieb der Posse war dieser Realismus schon lange vor den Meiningern da; wo der alte Hanswurst seine lustigen Späße nur mit Grimassen und Gliederverrcnkungen unterstützte, da gaben die Moser und Schönthan ihrem Komiker irgend ein greifbares Gerät in die Hand, welches einer ganzen Scene den Schein des Lebens verleihen soll: eine Gießkanne, eine Trom­pete, einen Blumenstrauß. Auch im höheren Lustspiel und Drama beschränkt sich das Bühnenbild, welches die Dichter vorschreiben, nicht inehr auf die Thüreu, rechts, links und in der Mitte, und zwei Stühle vor dem Souffleurkasten; in jedem Auftritt wird geraucht, gestrickt, gemalt oder sonst irgend etwas gethan, was allerlei Hausrat erfordert, und um der brennen­den Cigarre deS Bonvivants willen muß am Ende nicht nur ein einsames Rauchtischchen, sondern die ganze Einrichtung eines Herrenzimmers vor dem Zuschauer stehen. Die Claque ist so­gar schon darauf dressiert, so stilvolle Scenen-Einrichtungen, wie sie von Möbelhündlern fertig geliefert werden, mit lautem Beifall zu begrüßen. Auch die Dichter historischer Tragödien halten sich in den Kleinigkeiten der geschilderten Vorgänge an das Kostüm der Zeit. Sie machen es umgekehrt wie Shake­speare, der bloß das Wichtige traf. Dieser Realismus unserer Dichter nun von welchem hier natürlich nur die Rede ist, soweit er das Bühnenbild augeht zwingt die Regie zu einer entsprechenden Thätigkeit. Sie muß dem Komiker seine Gieß­kanne, dem Bonvivant sein Nauchtischchen und dem Heldendar­steller seineil Schuppenpanzer liefern. Und wenn das Publikum aus diese Dinge den Hauptwerk legt, wenn gefällige Theater­direktoren deshalb Stücke mit Gießkannen und Schuppenpanzern eher als andere zur Aufführung annehmeu, wenn bescheidene Dichter deshalb soviel Gießkannen und Schuppenpanzer wie nur irgend möglich aubriugeu, so ist das ein Unglück für unser

Theater, für welches der Realismus als solcher nicht verant­wortlich gemacht werden kann. Fast wie im Ballett sind in solcher! Requisitenstücken die Worte des Dichters zur Neben­sache geworden.

Der Gefahr, sich bewußt und freiwillig in den Dienst des Tapeziers zu stellen, sind die alten toten Klassiker nun wohl entgangen. Dafür sind ihre hinterlassenen Werke um so willen­losere Opfer in der Hand unternehmungslustiger Regisseure. Scenen, in welchen sie ganz naiv und ohne historischen Ap­parat große Menschen einander gegenüberstellen, werden von allerlei antiquarischem Kleinkram erdrückt; und Dichtungen wie­der, welche sich mit ihrer vollen Schönheit doch nur an den einsamen Leser wenden können, werden mit Aufbietung von Malerei, Musik und Tanz immer wieder aufs neue zu einen! künstlichen Bühnenleben geweckt. Die beiden wichtigsten Auf­führungen, welche die beginnende Spielzeit in Berlin brachte, gaben für diese Beobachtung gute Beispiele.

Ju Ludwig BarnaysBerliner Theater" sah man Shake­speares herrlichen Corivlan in einer Darstellung, welche alle wichtigen Rollen recht mittelmäßig, die Bolksscenen dagegen zum Teil glänzend zur Geltuug brachte. Glücklicherweise siud die Mittel des Berliner Theaters nicht so groß, daß die Archäo­logie in Dekorationen und Kostümen sich Hervorthun könnte. Es war mir beinahe erfreulich, daß die Architektur einige hun­dert und die Mützen um tausend Jahre jünger waren, als der alte Coriolanus. Wenn Shakespeare an einer entzückenden Stelle den Menenius seine Mütze zum Himmel Wersen läßt, so muß die Mütze trotz aller Primanerkenntnisse geworfen wer­den. Dafür thut sich die Regie in Bolksscenen gütlich; wo sich nur einerster Bürger" im Text des Dichters findet, da wird sofort ein Melodram veranstaltet, in welchem das Geschrei des Helden obligat vom polyphonen Geschreibes Volkes begleitet wird. Das Bühnenbild Shakespeares zeigte sicherlich einen Junker seiner Zeit, etwa im Kostüm Egmonts, freilich eines ironischen und nicht eben leutseligen Egniont, es zeigte ferner Londoner Pöbel. Shakespeares Cvriolan zieht vor den Wühlern ironisch den Hut. Wir könnten freilich einen solchen Anachronismus kaum mehr ertragen; aber die Übersetzung des Ganzen in das steifleinen Altrömische bringt den Dichter häufig um seine beste Wirkung.

Im Deutschen Theater hat sich dieselbe Mode, welche die Schaulust begünstigt, freilich die größte Aufgabe gestellt, welche die deutsche Bühne überhaupt zu lösen hat: die Gesamtauffüh­rung von Goethes Faust. Aber auch hier mußte sich der Dichter in den Dienst der Theaterleute stellen, anstatt daß das Theater dem Dichter zu dieuen bereit gewesen wäre. Von vornherein ist eine Aufführung des Faust, welche am ersten Abend den Pakt im Himmel der Zeitersparnis wegen weglüßt, am zweiten Abend jedoch die Rettung von Fausts Seele dar­stellt, ein schlichter Unsinn. Ja, ich möchte das Paradoxon wagen, daß der Prolog im Himmel, welchem unmittelbar der letzte Akt des zweiten Teiles folgte, vom Gesamt-Faust und seinem Ideengehalt einen besseren Begriff gäbe, als all die ge­waltigen Bruchstücke ohne den Prolog.

Über den zweiten Teil von Faust sind die Akten noch lange nicht geschlossen. Goethe hat vielleicht nie zuvor soviel Tiefsinn mit soviel Wohllaut verbunden, wie in den meisten Reden und Gesängen dieses Greisenwerks. Es ist ja schade, daß dieser letzte Schluß von Goethes Weisheit dem Volke für immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben wird; und es muß so bleiben, weil dies ist die einfache Wahrheit im zweiten Teil des Faust Tiefsinn und Wohllaut nicht mehr von der dichterischen Kraft, welche feste Gestalten schafft, zusammeuge- halten werden. Selbst der ragende Gipfel des zweiten Teils, der Tod des Faust, wird von schwankenden Gestalten cinge- leitet. Vier graue Weiber treten auf, die in das Haus des Reichen nicht eindringen mögen. Daß der Mangel und die Not nicht hinein können, ist klar, fast trivial. Warum kann aber die Schuld nicht eintreten? Warum naht dem Faust ge­rade die Sorge, die gar keine Beziehung zu seinem Streben hat? Warum erblindet Faust durch das Anhauchen der Sorge?