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In dem Kreis dieser Anschauung, die, wie jede Einseitigkeit, ihre guten und ihre schlimmen Folgen hat, bewegen sie sich aber um so viel leichter und bequemer, als sie in denselben, wenn nicht immer, so doch sehr häufig, wir dürfen sagen: meistens hineingeboren, das heißt: selbst bereits die Kinder von Offizieren oder Beamten sind und, als solche, das Nomadenleben der Eltern von früh auf geteilt haben. „Bald gras' ich am Neckar, bald gras' ich am Rhein" — das alte Volkslied ist zwar für solche Verhüllnisse nicht gesungen, paßt aber auf sie uicht übet. Mir ist eine ganze Reihe von Füllen bekannt, in welchen Beamtensöhne, den Kreuz- und Querzügen des Vaters durch die Länge und Breite des Staates folgend, bevor sie zur Universität kamen, die Bekanntschaft der Bänke von vier, fünf, ja noch mehr Gymnasien in ebensoviel verschiedenen Städten machen mußten. Wie kann da von einem gemütlichen Sicheinleben in so verschiedenartige Verhältnisse, einer innigen Anhänglichkeit auch nur an einen dieser vielen Orte, die einander ablvsen wie die Coulissen eines Theaters, die Rede sein!
Ebensowenig wie von einem freien Überblick über die Breite der Erfahrungswelt, einem raschen Sichanschmiegen an die mannigfaltigen Lebensbedingungen bei dem, den das Schicksal in einen bestimmten Kreis hineingeboren werden läßt und in diesem Kreise festhült. Es sei denn, daß dieser Kreis, wie der einer Groß-, einer Weltstadt, an und für sich schon ein Großes sei und dem uignilltivo traveller, der sich in ihm bewegt, eine Welt bietet. Aber auch er wird Mühe hnbeu, sich vor eiuer gewissem Eiuseitigkeit der Anschauung zu bewahren, und den Maßstab, an den er sich einmal gewöhnt hat, an Dinge zu legen, die anders gemessen sein wollen. Entgeht er aber glücklich dieser Gefahr, so droht ihm noch immer die andere, wie jener, den sein Wanderleben niemals zu einer gedeihlichen Ruhe kommen läßt, von der Überfülle der von allen Seiten auf ihn austürmenden Eindrücke zermürbt und verschlungen zu werden.
Nun ist es für jeden um der Harmonie seines Seelenlebens willen wünschenswert, daß er auf eine behagliche Jugend znrückblicken könne, — behaglich nicht im landläufigen Sinne, sondern in dem, daß ihm die Muße gewährt wurde, sich in die ihn umgebende Welt, wie sie nun eben war, mit allen Sinnen einzuleben; für den Dichter — den Künstler überhaupt: aber der Dichter mag hier als pai-8 pro toto stehen, — es ist einfach notwendig. Wenn „auch uns"— den Spütgeborenen, der Natur durch die Verküustelung des Kulturlebens Entfremdeten, die Sonne Homers scheint, so ist es, weil sie dem Dichter geschienen hat, und auch ihm nur, wenn er — in dem obigen Sinne — wahrhaft jung gewesen ist. War eres nicht, so wird ihm der Nährboden fehlen, aus dein seine Gebilde den lebensvollen Saft und die überzeugende Kraft fangen. Denn sein Wirken ruht auf der Phantasie; in der Phantasie aber spielt die Erinnerung eine große, wenn nicht die entscheidende Rolle; und welche Erinnerung könnte sich an Deutlichkeit und Dauerhaftigkeit auch nur annähernd mit der messen, die auf mächtigen, kaum betvegten Schwingen, geiergleich, über unserer Jugendzeit heiligem Raume schwebt? Wenn wir — die Älteren und Alten, durch das Leben Gewürfelten, durch die unzählige Wiederholung gegen den Reiz der Eindrücke Abgestumpften — wissen wollen, wie Sonne und Blond scheinen, die Sterne flimmern, die Blumen duften, der Morgen
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heraufdümmert und der Abend herabsinkt; wie Pferde wiehern, wenn der Kutscher die Haferkiste öffnet, und Hunde bellen, wenn sie am Abend das Heranrollen des Wagens hören, derben Hausherrn zurückbringt, — wenn wir dies und tausend und aber tausend desgleichen wissen wollen — o, glaubt doch nicht, daß wir aus unserem heutigen Empfindungsvermögen heraus die Frage beantworten könnten! Es sind Weisheiten, Geheimnisse, die sich einzig und allein dem Kindergemüt erschließen, und die wir jetzt, so gut es gehen will, dürftig nachstammeln.
Und was nicht noch stammeln wir der unbewußten Kinderweisheit nach! Börne sprach einmal das hübsche Wort: „Ich war ein großer Mann, als ich noch ein kleiner Junge war;" und es ist viel mehr als ein hübsches Wort: es ist eine tiefsinnige Wahrheit. Welcher kundigste Lavater wäre nicht ein Stümper im Vergleich zu dem Kinde, das dem Fremden auf den ersten Blick ansieht, ob es Gutes oder Schlimmes von ihm zu gewärtigen habe! Der Feldherr mag sich für seine Findigkeit auf dem Kampfterrain, die Klarheit seiner Dispositionen, die Schnellkraft seiner Entschließungen bei dem zwölfjährigen Jungen bedanken, der als Anführer der Unterquartaner den Tannenwald auf der Uferhöhe gegen die stürmenden Oberquartaner zu verteidigen hatte und die Schlacht gewann; den Diplomaten rettet in einer kritischen Scene die Erinnerung der eisernen Stirn, mit welcher der Quintaner dem Herrn Ordinarius, der schon beinahe die Wahrheit herausgebracht hatte, zu guterletzt dennoch ein T für ein U machte. Wer, und erreichte er das Alter des Methusalem, vergäße jemals Miene und Stimme, Gestalt, Haltung und Gang, das Räuspern und Spucken seines Lehrers in der Sexta! Dieser und alle, mit denen wir in der tanfrischen Maienzeit unsers Lebens in Zu- und Abneigung, Liebe und Haß, überquellenden oder dumpfklopfenden Herzens des Weges zogen, sie waren uns die Repräsentanten der Menschheit und werden es uns in gewissem Sinne für immer bleiben: die wenigen Themata, auf die wir die zahllosen folgenden Variationen mit Leichtigkeit zurückführen; die paar festen Punkte, um die sich der Wirrwarr der späteren Erfahrungen schicklich krystallisiert. Und deshalb, wenn ihr den Dichter, der über seine Kunst ernsthaft nachgedacht hat, fragt: woher er seine Modelle nimmt, so wird er euch ohne langes Besinnen antworten: die besten, ergiebigsten unbedingt aus der Jugendzeit, zu deueu dann das spätere Leben noch einige, nicht eben viele, hinzufügt, und auf die ich mich nicht mit derselben Sicherheit verlassen kann.
Dies nun alles wohl erwägend, muß ich sagen, daß, wenn mich das Schicksal zu einen: Dichter mache:: wollte, es mir wenigstens die ersten, vorbereitenden Stadien der Laufbahn schicklich geebnet und bereitet hat. Wie es mich hinsichtlich des äußeren Glücksstandes in eine Lage hineingeboren werden ließ, die von entnervendem Überfluß, wie von lähmender Dürftigkeit gleich weit entfernt war, so wollte es nur auch iu meiner Jugend — ich will nicht sagen: alles — wir werden später sehen: wieviel an den: „allen" noch fehlte — so doch gewähren, daß sich das Schifflein meines Lebens zwischen der Scylla Pfahl- und spießbürgerlicher Heimatlichkeit und der Cha- rybdis der Heimatlosigkeit glücklich hindurchwinden konnte.
(Fortsetzung folgt.)
Deutschland.