Heft 
(1889) 02
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30
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Seite 30.

Deutschland.

ülL 2.

Die heutige 7^ . '

Von

vi. Theodor IcrenscH.

<^^m Streben nach dem ursächlichen Begreifen alles Ge- ^7 schehens liegt das wahre Wesen der Natnrforschung.

Jedes ihrer (Gebiete fragt nach dem Warum der Erschei­nungen, und so kann schon morgen eine einzige neue Beobach­tung uns veranlassen, eine ganze Reihe von Thatsachen unter einen Gesichtspunkt zu fassen und gemeinsamer Deutung zu unterziehen. Die Gefahr, nach Kants Anssprucheeinäugig" zu werden, dürfte für die Naturwissenschaft überwunden sein.

Auch die Pflanzenkunde ist zur Pflanzenforschung gewor­den. Einst die vielgerühmte koimrtin aroudili^ welche die Blumen in ihr Bereich zog und ihre Mannigfaltigkeit bewundernd ord­nete, ist sie in neuester Zeit eher das Gegenteil. Sicherlich würde sie es in den Augen derer sein, die ihr den klangvollen Namen gegeben haben. Mit Messer und Mikroskop gewinnt sie ihre Erkenntnisse: mit Säuren und Farbstoffen geht sie zu Werke; Chemie und Physik sind ihr unentbehrliche Hilfe. Das Mikroskopieren" ist eine Kunst geworden, die durch lang­andauernde gründliche Übung erlernt werden muß gleich einem Handwerk. Das WortBlume" hat den Wert eines wissen­schaftlichen Kunstwortes gewonnen, dessen Bedeutung sich wesent­lich von derBlüte" unterscheidet. Fast den Vorzug aber vor der Welt der Blüten und Blumen giebt die neue Forschung der Welt der niederen Gewächse, die Gräben und Tümpel, modernde Erde und faulende Stoffe bewohnen, deren oft bleiche Gestalten kaum wie rechte Pflanzen ausschen, die sich aber im Verfolge und zum Lohne genauer Untersuchung schon mehr Geheimnisse des Lebens haben ablauschen lassen als die schönste Palme oder die herrlichste Rose.

Den vorgeschrittenen Hilfsmitteln des künstlichen Sehens enthüllt auch das Reich der Tange und Pilze den wunder­vollsten Wechsel der Formen, ja Farben. Und in der Deutung ihrer Mannigfaltigkeit wie der der höheren Gewächse hat sich die Botanik ans dieselben Grundlagen gestellt, auf denen die gesamte Naturwissenschaft unserer Tage seit dem von Darwin uns gegebenen Wendepunkte erwachsen ist. So ist die Erfor­schung der Pflanzenwelt als ebenbürtiges Glied in die Reihe der Schwestern getreten, und wir haben ein Recht zu sagen, daß die von ihr in den letzten Jahrzehnten geinachten Fort­schritte nicht minder gewaltig sind als die der allgemeinen Kraft- und Stofflehre, der Tiersorschung, der Völkerkunde und menschheitlichen Urgeschichte, der Erdgeschichte und Himmelskunde.

Einen wesentlichen Anteil daran hat dasjenige ihrer Ge­biete, welches man Phytotomie oder Pslnnzennnatomie zu nennen pflegt, also die Lehre und Kenntnis von: inneren Auf­bau des Pslnnzenleibes. Mannigfaltig sind die Verhältnisse, die sich ihrer Erforschung darbieten, so gut wie in der Welt der Tiere, auf welche die allgemeine Bezeichnung Anatomie meist zunächst bezogen wird. Als allgemein bekannt darf heut­zutage gelten, daß der Pflanzenleib nicht bloß in stofflicher, sondern auch in gestaltlicher Hinsicht aus denselben Grund­bestandteilen aufgebaut ist wie der Tierkörper, nämlich ans den die Urglieder alles Lebenden bildenden Zellen; nur daß die Zellen der Gewächse sich gewöhnlich der Mehrzahl nach sozu­sagen auf einer anderen Entwickelnngsstufe befinden. Die Tierzellen entbehren stets der eigentümlichen Zellhant, welche von den pflanzlichen Zellen regelmäßig gleich beim ersten Beginne ihres gesonderten Daseins als deutlichstes Zeichen des letzteren ausgeschieden wird. Aber das Wesentliche ist in beiden Fällen der körnigschleimige Bildungsstosf (Keimstop, Protoplasma), der erst durch chemische lind physikalische Sonderung die übrigen Bestandteile einer Zelle liefert. So ist auch der Name der letzteren, welcher auf einen hohlen Jnnenranm und eine den­selben allseitig umgebende Wand deutet, nur noch als ein ge­schichtlich gewordener anzuerkennen, der namentlich aus die entsprechenden Gebilde des Tierleibes erst übertragen ist und längst nicht mehr dem Begriffe entspricht, den mau ursprünglich in Anlehnung an die Wachszellcn der Bienenwaben damit

verbunden hat. Die Urglieder der Pflanze befinden sich eben meist weit zahlreicher als die des Tieres in einem völlig aus­gewachsenen Zustande, in dem sie kein Eigenleben mehr führen und nur noch der Erhaltung des Ganzen dienen. Dazu kommt das geringere Bedürfnis nach Beweglichkeit der Körperteile bei den Pflanzen. Ans den untersten Stufen des pflanzlichen wie tierischen Lebens gleichen sich freilich auch diese Unterschiede aus, und zahlreiche Übergänge versetzen uns oftmals in Zweifel, ob wir eine Gruppe niederer Wesen noch zu den Gewächsen oder zu den Tieren rechnen sollen, weshalb denn auch Haeckel vorgeschlagen hat, förmlich ein drittes Reich der Urwesen (Protisten) neben den beiden andern ans ihnen zu bilden.

Äußerst mannigfaltig sind nun die Formen der einzelnen Zellen, die Verteilung der Bestandteile in ihrem Inneren, ihre wechselnden Zustände und Verrichtungen sowohl bei verschiede­nen Pflanzenarten als in den verschiedenen Körperteilen des­selben Gewächses. Wie beim Tierkörper unterscheiden wir zahlreiche ArtenGewebe," ein Wort, welches ebenfalls noch von den ursprünglich falschen Vorstellungen über den inneren Lebensbau herstammt, und ihre wissenschaftlichen Bezeichnungen, wie Parenchym (Schnumgewebe), Prosenchym (Fasergewebe), Collenchym (Qnellgewebe), Tracheom (Leit­gewebe), Leptom (Siebgewebe), Mestom (Füllgewebe) und so weiter legen Zeugnis von ihren Besonderheiten ab. Die ana­tomische Pflanzenforschung sucht aber nicht bloß Klarheit über den fertigen Bau der Zellen, Gewebe und sonstigen Lebens­glieder zu gewinnen, sondern auch über ihre Entwickelung, Sonderung und Entstehung ans gemeinsamen Anfängen; sie sucht ferner ihre sonderartige Bedeutung für die Lebensvor- günge im Inneren und die Lebensbeziehungen nach außen zu begreifen, und vergleicht die abweichenden und übereinstimmen­den Merkmale verschiedener Arten und Verwandtschnftsgruppen in Hinsicht auf Anpassung und Vererbung ebenso wie die Tier­forschung. Für diesen letzteren Zweck ist aber die anatomische Betrachtung gerade so wie in der Tierkunde mehr und mehr neben der äußeren Gliedernngs- und Formenlehre von Wich­tigkeit geworden, und es eröffnen sich günstigere Aussichten, auch den Stammbaum des Pflanzenreiches mit Hilfe der Er­gebnisse vergleichender Jnnenerforschung fester als bisher zu begründen. Wie die Systematik überhaupt zur Lehre vom Stammbaum geworden ist, so schickt sich die Anatomie an, ihr die sichersten Bausteine zu liefern.

Während man noch bis vor kurzem darauf angewiesen war, die Gewebe der Pflanzen mangels anderer sicherer An­haltspunkte vorzugsweise nach der gestaltlichen Eigenheit der sie bildenden Zellen znsammenznfassen, sind wir inzwischen durch die Fortschritte der Physiologie soweit gelangt, auch hier von der eigentlichen Lebensbedeutnng der Teile als oberstem Ge­sichtspunkte anszugehen, wie dies in der tierischen Anatomie schon seit lange geschah. Wir betrachten als einheitliche Gruppen die im Formenbau selbst wieder vielfach gesonder­ten Gewebeschichten der Nahrungsaufnahme, der Wasser- bezw. Nährstromleitung, der Stoffnmarbeitnng (Assimilation), der Ausspeicherung und Durchlüftung (Atmung), die Ab- und Ausscheidung besonderer Stoffwechselerzeugnisse, so gut wie wir in der Anatomie der Tiere von einer Atmungs-, Verdaunngs-, Bewegungs-, Empsiudnngsgewebschaft u. s. w. sprechen. Wir fassen die festeren und härteren Teile des Pflan zenkörpers ebensowohl wie bei den Tieren als Stütz- und Schutzgebilde zusammen und sprechen von einem Traggerüst, einemmechanischen System" oder Skelett der Gewächse so gut wie von dem der Wirbeltiere oder Gliederfüßler; wir kennen aus Schwendeners geistvollen und ausgedehnten Untersuchungen die mathenmtischen Grundlagen seiner verschiedenartigen Aus­bildung und wissen die baugewerklichen Begriffe einer Zuggnr- tung, Drnckgnrtnng und Füllung, eines T und I-Trägers, die mechanischen der Biegungs-, Zug- und Druckfestigkeit auf den Ban des Pslanzenleibes anzuwenden und finden, daß die je­weiligen Einrichtungen auch in dieser Hinsicht den eigentüm­lichen Lebensbedingnngcn ihrer Träger meist aufs beste au­gepaßt sind. Wir wissen, daß die ansragenden Teile des