Heft 
(1889) 02
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Deutschland.

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dentenschaft, soweit sie nicht selbst aus Juden besteht. Es giebt unter den Antisemiten manche ehrliche Fanatiker, die ihre deutsch­nationale Gesinnung dadurch beweisen zu müssen glauben, daß sie: Hepp, hepp! rufen. Sie sind manches Mal selbst ver­wundert über die Elemente, welche sich ihnen anschließen. Viele eifrige Judenhasser können von sich sagen:Wenn ich auch sonst gar nichts bin, ein Antisemit bin ich doch!" Eine An­zahl dieserVereinigten Christen," wie sie sich mit Vorliebe nennen, ist dank der herrschenden Strömung der Geister in den Gemeinderat gelangt und droht ihn um den letzten Rest von Ansehen zu bringen. War er schon früher schläfrig und träge in Stadtangelegenheiten und stets geneigt, unnütze politische Debatten zu führen, so ist er heute der Schauplatz des wider­lichsten Gezänkes, des unfruchtbarsten Haders und der gegen­seitigen Verdächtigung geworden. Die Frage der Regulierung des Wienflnsses, welcher im eigentlichsten Sinne des Wortes znm Himmel stinkt, wird seit Jahrzehnten verschleppt; dem Wassermangel, der jeden Herbst in Wien herrscht und zum Einpumpen des unreinen Schwarza-Wassers in die Hochqnellen- leitnng nötigt, weiß der Gemeinderat nicht abznhelfen; der Aus­breitung der Dampftramways innerhalb des Stadtgebietes, die von den Staats- und Landesbehörden längst genehmigt ist, setzt er den hartnäckigsten Widerstand entgegen; jeden fremden Kapitalisten, der hier ein Unternehmen gründen möchte, schreckt er ab. Vor Jahren wollte der Engländer Fogerty eine Stadt­bahn bauen, er hatte die Konzession in der Tasche und alle Vorbereitungen getroffen, Wien würde ein rasches und billiges Verkehrsmittel gewonnen haben; der Gemeinderat aber fand die Stadtbahn unnötig und wies den Engländer ab. Schilda war übertroffen.

Alle diese Schattenseiten Wiens sind nicht zu leugnen. Wir empfinden sie täglich und stündlich. Aber trotzdem ist Wien nicht so herabgekommen, daß es weder Reichtum noch Frohsinn mehr kennen sollte. Das alte Bedürfnis nach Unter­haltung, das dem Wiener wie jedem Großstädter im Blute steckt, ist geblieben. Es geht nicht mehr so toll und voll zu, wie vor fünfzig Jahren, da die Fabrikanten vomBrillanten­grund" das Geld mit heiterein Leichtsinn ausstrenten und auf den Bürgerbüllen, die draußen in Hietzing in DommayersKa­sino" stattfanden, Tausende von Champagnerflaschen geleert wur­den; aber daß das Wiener Bürgertum noch nicht verarmt ist, dafür erhebt sich als Zeugnis und Denkmal das Deutsche Volkstheater. Der Fall, daß eine Anzahl von Privatleuten die Mittel zusammenbringt, um ein Theater zu erbauen, dürfte nicht oft vorgekommen sein. Er ist um so merkwürdiger, als die Aktionäre ganz und gar nicht in den Kreisen der Bank- nnd Börsengrößen gesucht wurden. Der Gedanke, das Volks­theater zu gründen, ging von einem bescheidenen Professor der englischen Sprache ans. Ihn: schlossen sich ein paar wohl­habende Bürger an, die unter ihren Bekannten und Geschäfts­freunden die Werbetrommel rührten. Die Idee fand Anklang, überraschend schnell floß das Geld herbei. Man brauchte allerdings nicht viel, denn das neue Theater, obwohl außen und innen sehr hübsch, ist unendlich billig hergestellt. Es kostet samt der inneren Einrichtung, fix und fertig bis auf die elektrische Beleuchtung, nicht einmal eine halbe Million, im Vergleich mit den Summen, welche andere Theater erfordern, ein wahres Spottgeld. Der Gewinn der Architekten, wie der sämtlichen an dem Bau beteiligten Geschäftsleute ist natürlich nicht der sonst landesübliche, sondern ein höchst bescheidener. Die bisherigen Vorstellungen waren überfüllt; der Reiz der Neuheit und das greuliche Herbstwetter wirken zusammen, um das Publikum in das Volkstheater zu locken. Auch die billi­gen Eintrittspreise tragen zu dem massenhaften Besuch bei, und Direktor von Bnkovies hat vorläufig bloß den einen Gedanken: Ach, wenn es nur immer so bliebe!" Es war ein kleines Wagnis, ihn an die Spitze des Unternehmens zu stellen; denn er hat noch nie ein Theater geleitet, und seine praktischen Er­fahrungen im Vühnenwesen verdankt er nur dem Umstande, daß er der Sekretär seines Bruders Karl war, als dieser die Direktion des Theaters in der Josephstadt führte. Emerich

von Bnkovies, der aus einer altadligen ungarischen Familie stammt, ist bisher fast immer Journalist gewesen, hat als Korrespondent desPester Lloyd" lange in Paris gelebt und manches französische Stück für die deutsche Bühne übersetzt. Er ist ein noch ziemlich junger, äußerst stattlicher Alaun mit guten Umgangsformen, der Eifer und Liebe für seine neue Auf­gabe mitbringt. Die hiesige Jonrnalistik kommt dem alten Kollegen sehr freundlich entgegen nnd wünscht ihm den besten Erfolg. Es wäre verdrießlich, wenn dieser nnsbleiben sollte, denn dann würde jeder Schauspieler spottend sagen:Das mußte fehlschlagen, warum machte man einen Journalisten znm Direktor?" Jedenfalls ist der Sprung vom Zeitnngs- korrespondenten znm Theaterdirektor nicht so groß, wie der vom Dragvnerrittmeister znm Statthalter, den kürzlich Graf Franz Thun ansführte. Der edle Herr mag ein vortrefflicher Schwadronskommandant gewesen sein, aber ob er deshalb der geeignete Mann ist, die Verwaltung Böhmens zu leiten, das leuchtet nicht sofort ein. Die Deutschen in Böhmen sind jeden falls nicht gewillt, sich kavalleristisch behandeln zu lassen, nnd die Jungtschechen sind nicht wie Remonten abznrichten. Bei der Ernennung des Grafen Franz Thun verließ sich Graf Taaffe wohl auf den alten Spruch:Wem Gott ein Amt giebt, dem giebt er auch Verstand."

Bei Bürgerlichen denkt man in der Regel nicht so. Aber ein alter Adelsbries gilt heute in Österreich nicht nur als Em pfehlnng, sondern als Anspruch auf hohe Stellen. Dieser Grundsatz hat sich in den letzten zehn Jahren allmählich, fast nnmerklich, wieder eingebürgert, nnd wenn man das österrei­chische Staatshandbnch anfschlägt, so staunt man über die Menge hochadliger Beamten. Sie erfreuen sich einer ungemein raschen Beförderung nnd springen über die Köpfe ihrer bürger­lichen Vordermänner wie die Seiltänzer weg. Einer ans ihrer Mitte hat dies bei öffentlichem Anlaß mit der Erklärung ge­rechtfertigt, es sei gar nicht zu leugnen, daß die bürgerlichen Beamten mehr Kenntnisse und Geschicklichkeit besäßen, aber die aristokratischen Hütten mehr Takt, nnd der Takt sei für höhere Beamte das Wichtigste. Da nach dieser Ansicht auf den obersten Sprossen der hierarchischen Leiter der Takt die einzige erforder­liche Eigenschaft sein dürfte, so liegt in der Beförderung vom Rittmeister znm Statthalter nichts Außerordentliches. Bedenk­lich scheint es nur, daß Graf Franz Thun bei den offiziellen Ansprachen, die er in seiner neuen Würde hielt, just jene Tu­gend vermissen ließ, welche sein Standesgenosse als besonderen Vorzug des Hochadels rühmte.

Das Bestreben, die alten Vorrechte des Adels wieder anf- leben zu lassen, tritt allerdings nicht bloß bei uns in Öster­reich hervor. Es ist ein allgemeiner Zug der Zeit genau ebenso wie das Erstarken des Kathvlieismns. Vielleicht hängt eine Bewegung mit der anderen zusammen. Einst hat die Ro­mantik die Litteratnr beherrscht, heute ist sie in die Politik nnd die Gesellschaft eingedrnngen. Alan rühmt die zweckbewnßte, praktische Methode der heutigen Staatsknnst, man erschrickt manchmal vor der grausamen Nüchternheit unserer sozialen Verhältnisse. Die ganze moderne Welt ist kühl und trocken; den Idealismus hat man verbannt; an seiner Stelle schleicht sich jedoch eine ungesunde Romantik gerade dort ein, wo sie verderblich wirkt. Die blaue Blume, welche vor sechzig Jahren die Dichter suchten, ist verblüht: aber die Regierenden wenden ihren Blick nach vergangenen Jahrhunderten, und ein längst tvtgeglanbter Kastengeist, ein für überwunden gehaltener fröm­melnder Eifer gehen als mittelalterliche Gespenster umher. Draußen im Reich, wie wir zu sagen pflegen, kann man sie leichter verschmerzen. Das deutsche Volk hat Einheit, Macht und Größe gewonnen, und wenn heute einer in der Fremde sagt: Ich bin ein Deutscher! so klingt das fast ebenso wie vor zwei Jahrtausenden das stolze Wort: «Oivi« IWommm 8nm.» Aber wir Dentschösterreicher was tröstet uns über die Schwindsucht der bürgerlichen Freiheit, über die unheim­lichen Geister, die in unserem Staatsleben spuken?