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Deutschland.
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Die Freie Bühne.
Von
I. M-
^ber die Organisation des Vereins „Freie Bühne" herrscht sogar unter seinen Mitgliedern, welche am Vormittag des 29. September zum erstenmal den Zuschauerraum des Lessingtheaters füllten, ziemliche Dunkelheit; das ferner stehende Publikum weiß schon gar nicht, an wen es sich bei diesem alleruenesten Berliner Theater zu halten habe. Als bekannt darf vorausgesetzt werden, daß die Freie Bühne jedes Stück nur ein einziges Mal zur Aufführung bringen will und so im Laufe des Winters etwa zehn Werke, für welche die stehenden Bühnen sich ans welchem Grunde immer verschließen, seinen Mitgliedern vorführen wird. Zehn Namen sind veröffentlicht worden, welche die Inhaber der vligarchischen Regierung bezeichnen. Es soll aber für Freund und Feind nicht verschwiegen werden, daß innerhalb dieser Regierung der bekannte Litterar- histvriker Otto Brahm bisher weitaus die größte Arbeit geleistet und den glänzenden Erfolg des ersten Tages eben nur ! noch mit Hilfe des Regisseurs Hans Meery und der fünf l Darsteller errungen hat. Es war keine leichte Aufgabe, die i schallspielerischen Kräfte für diesen einen Tag zu vereinigen. ! Und es wäre nicht gelungen, wenn die Leiter der großen ^ Theater das junge Unternehmen nicht unterstützt und dadurch ! bewiesen hätten, daß sie persönlich mit künstlerischer Freiheit j über der eigeilen gewohnten Geschäftsleitung stehen.
Die Reihe der Aufführungen begann mit Ibsens „Ge- ^ spenstern" und beschwor so Plötzlich den Streit über den nordischen Dichter wieder herauf. Es giebt schon eine sehr zahlreiche Jbsengemeinde, welche auf jeden Gedankenstrich des Meisters schwört; doch selbst kritiklose Lobeshymnen sollen mich nicht abhalten, immer wieder warnend dazwischen zu rufen, ! daß der Täufer noch nicht der Messias ist, und daß die Jahrtausende alte Bedeutung des Wortes „Poesie" begrifflich erweitert werden müßte, wenn die psychologischen Dramen Ibsens für den Gipfel der Poesie gelten sollten. Aber noch weniger darf das Zetergeschrei der Philister und das ablehnende Kopfschütteln der Ängstlichen die Überzeugung zurückdämmen, daß in Henrik Ibsen ein bahnbrechender Geist und eine dramatische Kraft ersten Ranges einer unklaren modernen Bewegung erst ihre Ziele gewiesen hat. Auch Diderot war für das Drama seiner Zeit epochemachend, trotzdem er kein voller Dichter war. Ilnd wenn heute alte Herren, deren angenehmster Typus noch I Karl Frenzel ist, ans ihrer Beschäftigung mit Diderot das Recht herleiten, über Ibsen thörichtes Zeug zu radotieren, so machen sie denselben Eindruck, den der selige Gottsched zur Zeit Diderots machen mußte. Es läßt sich gewiß viel gegen Ibsen einwenden; wer ihn aber bekämpfen will, muß mit ihm ans demselben freien Boden stehen lind darf nicht auf der Schulbank eines vergangenen Jahrhunderts sitzen geblieben sein.
Nicht so grundlos ist der Vorwurf, daß die Freie Bühne im Grunde nur einen einzigen, unbekannten Schriftsteller entdeckt und den Ausländern den ersten Platz und überhaupt zu viel Platz eingeräumt habe. Das wäre kaum geschehen, wenn die Freie Bühne nach jahrelanger Vorbereitung einem pedantischen Programm gemäß ins Leben getreten wäre. Dann Hütte sie aber auch leicht all der Uneinigkeit der ersten Gründer sofort scheitern können.
Die Freie Bühne mußte aber gegründet werden, weil der Gedanke, wie man zu sagen pflegt, in der Luft lag. Sonst liegt der Gedanke immer in der Luft, wenn das Geld auf der Straße zu liegen scheint; diese Absicht war und ist jedoch dieser Schöpfung fern geblieben, trotzdem der „Gedanke in der Luft" ursprünglich doch nur eine Nachahmung ausländischer Freier Bühnen war, welche sich von den stehenden Bühnen wohl durch ein festes, künstlerisches Programm, nicht aber durch einen Verzicht auf Geldgewinn unterschieden. Dieser ideale oder sagen lvir lieber unpersönliche Zug ist charakteristisch für die deutsche Freie Bühne.
In Frankreich hat der naturalistische Roman den Sieg über die alte Schule errungen. Die siegreichen Dichter haben aber bisher vergebens versucht, auch die Bühne zu erobern, trotzdem schon der alte Balzac und nach ihm die Brüder Goncourt einige große Anläufe machten, und trotzdem in unfern Tagen der erstaunliche Zola unermüdlich seine gebrauchten Romane zu Dramen aufarbeitet. Die Freie Bühne voll Paris hatte also die klar gestellte Ausgabe, einer neuen litterarischen Richtung, welche im Buchhandel die größten Erfolge gehabt, auch den Geschäftsbetrieb der Bühne unterzuordnen.
In Skandinavien ist die Richtung, welche man fälschlich ebenfalls naturalistisch nennt, welche aber jedesfalls zu dem schwer definierbaren Programm der Freien Bühne gehört, zu einer noch gewaltigeren litterarischen Machtstellung gelangt. Ibsen beschäftigt die Gemüter fast so sehr, wie etwa vor einem Menschenalter die Philosophie Schopenhauers und nachher die Musik Wagners die jungen Köpfe aufgeregt hat. In allen diesen Fällen war es nicht die Erkenntnis, nicht die Musik und nicht die Poesie, welche der Anhänger dieser Männer, der
.inner, in erster Linie in sich gefördert sah, sondern
etwas der Religion Verwandtes, etwas Unaussprechliches, etwas Hohes! Die blaue Blume der Romantik duftete in immer neuen Metamorphosen. Einerlei! Der skandinavische Norden besitzt in Ibsen einen Führer, der europäischen Ruhm erworben hat, und da ist es kein Wunder, daß er Nachfolger findet, welche ihn zu übertrumpfen suchen, ihn oft vergröbern und verzerren, aber von der Mode des Tages hoffen, daß sie ihre Nachahmungen in den Kauf nehmen werde. So hat die Freie Bühne von Kopenhagen, wie die von Paris, ihren sehr realen Untergrund.
Für die Vergleichung mit Deutschland sind ein paar Jahreszahlen wichtig. Balzac, das erste Genie unter diesen Namen, war 1799 geboren, also ein Zeitgenosse von Heinrich Heine. Edmond de Goncourt ist 1822 geboren, Ibsen 1828; der ver storbene Jules de Goncourt war nur zwei Jahre jünger, und selbst der jüngste und schneidigste unter den Führern, Zola, wird demnächst fünfzig Jahre alt sein. In Deutschland da
gegen sind es nur blutjunge Leute, welche blindlings zur naturalistischen Schule schwören; wer von ihnen das dreißigste Lebensjahr erreicht hat, wird bein-ahe als Ehrengreis behandelt und von seinen eigenen Jüngern leise gemahnt, daß er wieder vom Schauplatz nbzutreten habe. Der einzige Theodor Fon taue, der mit seinen nahezu vollendeten siebzig Jahren dem kühnsten Realismus huldigt und von Proselytenmachern darum mit den ausländischen Naturalisten zusammengekoppelt wird, ist eine so unvergleichlich individuelle Erscheinung, ist so durch und durch Märker, ist überdies in seiner ironischen, etwas konserva tiven Weltanschauung so weit von allem Sturm und Drang entfernt, daß seine litterarische Klassifikation zu den schwierigsten Dingen gehört. Zu meinem Glück hat er nichts für die Bühne geschrieben und gehört also gar nicht hierher. Die übrigen be rühmten deutschen Schriftsteller, die vor dem Jahre 1848 geboren sind, stehen der Bewegung freund oder feindlich gegen über. Friedrich Spielhagen und Paul Heyse haben sie in ihren letzten Büchern lebhaft angegriffen; Spielhagen in einem Roman, im „neuen Pharao," Heyse in Epigrammen und in einem Theaterstück, der „Prinzessin Sascha."
Ich meine also, daß bei uns, trotz aller Bewunderung für Zola und Ibsen, die neue Richtung bis jetzt nicht siegreich gewesen ist, weil sie keinen anerkannten deutschen Namen ans ihre Fahne schreiben durste, lind nichts Thörichteres könnte es geben, als in der Not den ersten besten aufs Schild zu erheben, nur damit lvir auch einen Namen zu stellen haben. In der Not frißt der Teufel Fliegen, aber er nennt sie darum nicht Fasanen.
Die Thatsache steht fest, daß wir Deutsche keinen bedeutenden Dichter jener Richtung haben, welche sich in Zola und Ibsen am kräftigsten ausgesprochen hat. Ist das nun bloß ein Zufall? Ist nur zufällig in dem jüngeren Geschlecht keine Begabung vorhanden, welche wir den großen Ausländern an die Seite stellen könnten? Oder geschieht, was in Deutschland