Heft 
(1889) 02
Seite
37
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Deutschland.

Seite M.

schon einmal geschehen ist? Vorarbeiten wir vielleicht nnr die Anregungen von Westen und von Norden, um am Ende mit einer neuen Dichtkunst der Zukunft hervorzntreten, welche den Naturalismus und die anderen Strömungen in sich ausgenom­men und künstlerisch überwunden hat? Die Freie Bühne von Berlin wird hoffentlich dazu beitragen, daß diese Frage gelöst werde. Denn diese Freie Bühne war auch bei uns ein Be­dürfnis.

Jeder ihrer Erfolge wird ein Sieg über das Publikum sein. Bei keinem der zur Aufführung gewühlten Dramen han­delt es sich um irgend ein Geheimnis, welches den andern Theaterleitern verborgen geblieben Ware. Die Stücke lagen im Original oder in der Übersetzung gedruckt vor, und jeder Büh­nenleiter hatte nnr znzngreifen, um die Freie Bühne überflüssig und damit unmöglich zu machen. Die alten Bühnen haben aber niemals den Beruf in sich gefühlt, dem Geschmack des Publi­kums voranszneilen. Sie sind ohne Ausnahme so sehr von dem täglichen Kassenbericht abhängig, und die Einnahmen wieder stehen in einem so geraden Verhältnisse zu den Wünschen der zahlenden Menge, daß die Leitung jedes Theaters endlich und schließlich immer wieder in der Hand des Publikums liegt. Der Direktor, sei er nun ein Hosbenmter oder ein Privatmann, hat etwa die Stellung des Ministers in einem konstitutionellen Mnsterstaate, nnr daß das geehrte Publikum nicht ein für allemal alle drei Jahre, sondern tagtäglich zur Abstimmung schreitet. Tagtäglich muß danach der leitende Mann sein Re- giernngczprogramm ändern. Tie Abstimmung geschieht auf die einfachste Weise. Tie Regierungspartei erscheint im Lokale und bezahlt ihren Stimmzettel bar: die Opposition bleibt eben weg und übt durch diesen Passiven Widerstand und die un­mittelbare Stenerverweigernng eine viel größere Macht ans, als wenn sie znm Beispiel für ihr Geld ins Theater kommen und dort zischen wollte. Ta nun ein Theater, so gut wie der ! Staat und jedes andere Wesen, erst bestehen muß, bevor es ein ideales Ziel verfolgen kann, da die Existenz des Theaters täglich anss neue von dem zahlenden Publikum abhüngt, so kann ein gewissenhafter Direktor selbst bei gutem Willen nicht gegen die Geistesträgheit des Publikums ankämpfen. Und so ist der beklagenswerte Mangel an Initiative ans unseren Büh­nen nichts weiter, als die notwendige Folge des öffentlichen Geschmacks.

In dem Programm der Freien Bühne heißt es:Wir binden uns an keine ästhetische Theorie und schwören ans kein Programm, sondern wir heissen alles willkommen, was frei und groß und lebend ist; nnr das Werk der erstarrten Form bleibe uns fern, das Produkt der Berechnung und der Kon­vention."

Berechnung und Konvention, das ist der ewige Vorwurf, der den Repertvirstücken unserer stehenden Bühne so selten erspart werden kann. Einige Berliner Kritiker, welche ihr Amt ernst zu nehmen gewohnt sind und diesen Vorwurf darum am häufigsten erheben, sind an der Leitung der Freien Bühne beteiligt. Sie werden durch die Wahl der Dramen und durch deren realistische Jnscenesetznng einmal zu beweisen Gelegenheit haben, daß die Kritik doch nicht so unfruchtbar sei, wie schlechte Schauspieler und schlechte Schriftsteller der Welt gern glauben machen möchten.

KLeine Kritik.

SN

Fausts Tod. Ans der Tragödie zweitem Teil von Goethe; für die Bühne bearbeitet von dt. L'Arronge. (Berlin, Mitscher und Röstell.)

Ein verwegener Kritiker hat den Direktor L'Arronge dafür, daß er einige Stücke des zweiten Teils von Fanst glücklich znr Aufführung brachte, denmitdichtenden Regisseur" genannt. L'Arronge selbst wäre

wohl zu geschmackvoll gewesen, um sich einen Mitdichter am Faust zu nennen, ohne Herrn Wolfgang Goethe vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Wie dem auch sei, für die Theatergeschichte des Faust ist das Vorgehen von L'Arronge nicht ohne Bedeutung. Und wie es einen der Ruhmestitel von Professor Erich Schmidt bildet, daß er den Ur-Fanst entdeckt hat, so kann L'Arronge das Verdienst in Anspruch nehmen, die Verse des zweiten Teils auf die Länge von drei Stunden zusammen­gestrichen und damit den Uhr-Faust entdeckt zu haben. r.

Goethes Werke, heransgegeben im Aufträge der Großherzogin Sophie von Sachsen. (Weimar, Hermann Böhlan, 1889.)

Von der großen Weimarer Goethe-Ausgabe, welche dem deutschen Volte endlich den größten Dichter in schöner Ausstattung und vollständig in die Hand geben wird, sind soeben zu den zwölf bisherigen Bünden vier neue erschienen. Um das Volk goethereif zu machen, hätten bei den nötigen Anlagen am Ende auch die alten, wohlfeilen Ausgaben ge­nügen müssen; für den ernsthaften Verehrer Goethes wird aber das mächtige Goethe-Werk, welches außer allen Schriften auch sämtliche Tagebücher und Briefe bringt, bald unentbehrlich sein. Die neue Liefe­rung enthält zwei Bände Briese und zwei Bände Dramen. Der philo­logische Apparat bringt nicht nur für den gelehrten Forscher, sondern auch für den einfachen Goethe-Liebhaber interessante Neuigkeiten, nament­lich zu Iphigenie und zu dem schönen Bruchstück von Nansikaa. Da unter den Herausgebern dieser Bände nicht Herr von Lvepcr ist, wird einer höheren Töchtermoral zuliebe nichts unterschlagen, wie das un­glaublicherweise im ersten Bande der Gedichte geschehen konnte. Ob das Publikum ein paar Dutzend frechschöne Verse mehr oder weniger von Goethe kennen lernt, ist allerdings nicht eben wichtig; die Wissen­schaft aber, in deren Dienst und mit deren Hilfe die Weimarer Aus­gabe erfolgt, sollte keine Nebenrücksichten kennen. Das ewig Weibliche zieht ja sonst hinan. r.

Polska Maria. Masurische Dorfgeschichten von Richard Skowronnek. Dresden und Leipzig, H. Minden. 1889.

Die stimmungsvollen Schilderungen der masurischen Forsten, der großartigen Einsamkeit des Spirdingsees, der kernigen Gestalten der polnisch-litthauischen Bevölkerung mit ihren ungezähmten Leidenschaften beweisen, daß wir in dein Verfasser ein ganz hervorragendes Talent anzuerkennen haben. Von seiner weltentlegenen Heimat ist ihn: ein eigentümlicher Zug der Schwermut geblieben, der den Wert seiner Erzählungen steigert. Das StimmungsbildNachtschwalben," die kulturhistorische SkizzeDer letzte Bauer von Rohmanken" gehören deshalb zu den besten Dorfgeschichten. Die Titel-Erzählung ist nicht gerade glücklich gewählt, denn ihr Motiv ist zu roh und abstoßend. Auch die humoristische SkizzeMontecchi und Capuletti" ist weder originell noch fesselnd.

Zwei Komtessen, von Marie Ebner-Eschenbach. Zweite Auflage. (Berlin, Verlag von Gebrüder Paetel, 1889.)

Es wäre vielleicht ein geringes Lob, Marie von Ebner-Eschenbach eine unserer ersten Dichterinnen zu nennen. Das ist sie auch gar nicht. Sie ist einer unserer ersten Dichter. Wenn Frankreich oder England eine Schriftstellerin von dieser Bedeutung unter den Lebenden zählen würde, so wäre ihr Ruhm und ihr Erfolg weit über die Grenzen der Heimat hinaus verbreitet. Nur bei uns ist es möglich, daß eine solche Erscheinung ihre Anerkennung nnr bei einer kleinern oder größer:: Ge­meinde findet. Bei Anzengruber, bei Gottfried Keller läßt sich das Gemeindeprinzip unter ihren Bekennen: noch eher ans gewissen Härten dieser Dichter erklären; Marie von Ebner-Eschenbach aber bietet keinem verständigen Leser irgendwelche Schwierigkeiten. Sie ist zwar weise wie ein alter Philosoph, aber zugleich doch übermütig lustig wie ein toller Backfisch. In der vorliegenden neuesten Novellensammlung befindet sich auchKomtesse Muschi," ein Meisterstück an Charakteristik, zu welchem nicht leicht ein ebenbürtiges Pendant gefunden werden könnte.Ist das durch ein Weib geschehen," wie ihr älterer Kollege und Namensvetter Wolfrain sagt, so soll das Lob darum nicht größer, aber auch nicht ge ringer ausfallen. e.